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Kraft der Distanz

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Frühere Jahrhunderte wußten es besser als das unsere, wie groß die Kräfte sind, die dem einzelnen wie der politischen Gemeinschaft aus der Abgeschiedenheit zuwachsen. Heute noch kann man im rheinischen Reichsdorf Rhense den Obstgarten mit den Resten jener Laube besichtigen, in der Kurfürsten des Heiligen Reiches ihren „Verein“ hielten. Sie saßen auf harten Steinsitzen unter sommerlichen Bäumen, als sie Anno 1338 ihren für die folgenden Jahrhunderte entscheidenden Beschluß faßten, das deutsche Königtum hinfort von der Bestätigung durch den Papst unabhängig zu machen. Es war eine jener echten, historischen „Ratsstunden“, die heute immer seltener geworden sind.

Die in unserer Jahrhundertmitte gipfelnde Entwicklung, die immer stärker in den mörderischen Sog der gehetzten Termine, einander übersehneidende, durch Telephongespräche und Geschäftigkeiten unterbrochene Kurzgespräche oder in den leeren Firlefanz der „Kongresses“ geraten ist, hat solche Gespräche in der Abgeschiedenheit fast unmöglich gemacht. Wer sie dennoch aufsucht, läuft Gefahr, sich von den Wirklichkeiten zu entfernen, in den luftleeren Raum zu geraten, indes sich drunten im Tale der Betrieb pausenlos weiterdreht.

Als die Oesterreichische Volkspartei vor mehr als zwei Jahren, unmittelbar vor einem für sie entscheidenden Wahltermin, ihren Entschluß faßte, ihre parlamentarischen Vertreter unter dem Vorsitz ihres Klubobmanns zusammen mit den Funktionären der Parteipolitik aus allen Bundesländern auf den Semmering zu laden, wurde dies sofort mit einer Wolke von Gerüchten umgeben. Ausdrücke, wie „Konklave“, „Geheimsitzung“, „Klausur“, wurden geprägt. Vor allem erwarteten die Tagesjournä-listen „Ergebnisse“, „Beschlüsse“, „Marschbefehle“. Nichts davon geschah. Für Resolutionen und juristisch bindende Beschlüsse ist und bleibt der dafür laut Statut vorgesehene Parteitag, der halböffentlichen Charakter trägt, allein zuständig. Aber etwas anderes kam auf dem Semmering heraus. Man ging auseinander, ohne den jeweils eigenen Standpunkt preisgegeben oder auch nur verwässert zu haben. Aber man hatte sich ausgesprochen. Und, was noch wichtiger war: man hatte Zeit zum Hören gehabt. Man hatte den anderen, den Partner, einmal wirklich zur Kenntnis genommen, man hatte für einige Stunden jenen „dritten Ort“ gefunden, den zu schaffen das Hochziel der Volkspartei ihrem Gründungsethos zufolge ist und zu bleiben hat, den dritten Ort der erlebten Gemeinsamkeit, die der Königsgedanke einer österreichischen Volkspartei, wie wir sie uns denken und wünschen, über allen berechtigten bündischen Sonderinteressen ist und bleibt.

Die Semmeringtagung von 1956, bei der die Meinungen unverblümt und zum Teil recht heftig aufeinanderprallten, die keine Patentlösung für alle schwebenden Probleme fand, hat sich als ein Kraftquell erwiesen, der die Partei in einer Phase der Mutlosigkeit und des Zweifels zu erneuern und zu jenem Wahlsieg heranzuführen vermochte, der ihr beinahe die absolute Mehrheit im Parlament brachte. Das Geheimmittel lag nicht so sehr in zündenden Referaten und Aufmunterungsreden. Es lag einfach in der kräfteentbindenden Wirkung der echten Aussprache, des Zuhörens wie des Sicherklärens „an drittem Ort“, in jener ruhig und im guten Sinn des Wortes liberal geleiteten Diskussion.

In diesen Tagen sind die Frauen und Männer der ersten Regierungspartei erneut auf dem Semmering zusammengetreten. Wir sind darüber unterrichtet, daß auch diesmal die freimütige Aussprache im Vordergrund stehen soll. Alle jene etwas kurzatmigen Dramatisier er, die sich nun die „Antwort“ auf das neue SPOe-Pro-gramm erwarten, werden, das kann heute bereits vorausgesagt werden, nicht auf ihre Rechnung kommen. Ganz abgesehen davon, daß das Semmeringgremium, der einladende große Klub, für Programmbeschlüsse oder Programmänderungen keinesfalls zuständig wäre, hat auch niemand die Absicht, diese Zusammenkunft zu einer doktrinären Rednerbühne zu machen. Kein Parlament von Blocks und Interessengruppen, die untereinander ein Tauziehen veranstalten wollen, wird diese Zusammenkunft werden, sondern eine Zusammenkunft von Menschen, die für sich- selbst und ihre Gesinnung stehen, die neben der eigenen Redewilligkeit die Zuhörbereitschaft für den anderen mitbringen.

Die drei Tage in der Höhenluft sind kurz, so kurz, daß kaum einer in Versuchung geraten wird, über der Abgeschiedenheit droben das Getriebe „im Tale“ zu vergessen. Wir erwarten nicht, daß die fest — uns will manchmal scheinen: allzu fest — in dem, was sich „Tagespolitik“ nennt, verhaftete Volkspartei von den Bergen her einen Höhenflug antreten wird. Aber wir hoffen, daß sie gerade in der Abgeschiedenheit der drei Tage jene Distanz des Augenmaßes gewinnen wird, die sie und ihre Mandatare befähigt, jedes noch so gerechtfertigte Eigeninter-esse am Großen und Allgemeinen zu messen.

Dieses Allgemeine steht für den christlichen Realisten nicht als eine platonische Idee irgendwo außerhalb in unerreichbaren Fernen. Es liegt ebenso in den Dingen selbst, wie diese durch ihr Einzelsein unzerstörbar geprägt sind. Und es kann nicht durch eine Preisgabe des eigenen Gesichts, durch Hingabe an ein totalitäres politisches Ziel, eine innerweltliche Ersatz-religion, mag diese sich nun Marxismus oder indifferenter Humanismus nennen, erreicht werden. Dieses Ziel liegt in der Reichweite des politischen Tages. Um es zu erkennen, bedarf es weder einer besonderen Erleuchtung noch einer alles regelnden und von oben her bestimmenden Doktrin, die gerade Oesterreich noch nie zum Heil geführt hat, mag sie welche Parteifarbe immer getragen haben. Um es zu erkennen, bedarf es der freien männlich-klaren Begegnung in der freiwillig bejahten demokratischen Gemeinschaft. Es s c h e i n t, d a ß die . Volkspartei dafür weniger ein nach Paragraphen gegliedertes Programm als eine. Erneue r u n g des ursprünglichen Vertrauens und der Kameradschaftlichkeit bedarf, jener Eigenschaften also, die immer die Zeiten ihrer echten und verdienten Erfolge begleitete. Wo an die Stelle der offenen und — warum eigentlich auch nicht? — mitunter harten Aussprache mit ihrer reinigenden Kraft die Cliquenbildung und die heimliche Vorzimmerintrige, das Flüstergespräch und die Naderei treten, ist der Weg ins Verderben eingeleitet. Kein noch so schönes und ausgeklügeltes Programm der Theorie, keine noch so wortreiche, die wahren und natürlichen Gegensätze übertünchende Resolution kann das verhindern.

Wer der Partei diesen Geist der gegenseitigen Offenheit, der vertrauensvollen Aussprache, die nur bei klarem Bekenntnis zu gemeinsamen Grundsätzen möglich ist, zu erhalten, zuweilen auch zu erneuern vermag, dem wird die Zukunft gehören. Aus dieser Gesinnung heraus ist der Semmering von 1956 für die Volkspartei ein Kraftquell geworden. Ihre Freunde, die aus einem ähnlichen Geist heraus mehr an die erfrischende Kraft eines offen-kritischen Wortes als an die Servilität einer Scheineinheit glauben, hoffen auf eine Erneuerung dieses Geistes auch in diesen Herbsttagen 1958.

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