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Ratten hausen am Meer

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„Der technische Fortschritt hat uns in den letzten Jahren überrollt. Im Meer und in den Flüssen hat er Zustände geschaffen, die vom hygienischen Standpunkt aus nur noch als überaus gefährlich bezeichnet werden können.“ Das erklärte der letzte Sa-nitäts- und Gesundheitsminister der Regierung Rumor, Mariotti.

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„Der technische Fortschritt hat uns in den letzten Jahren überrollt. Im Meer und in den Flüssen hat er Zustände geschaffen, die vom hygienischen Standpunkt aus nur noch als überaus gefährlich bezeichnet werden können.“ Das erklärte der letzte Sa-nitäts- und Gesundheitsminister der Regierung Rumor, Mariotti.

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Der italienische Fremdenverkehr wurde weder durch die politische Krise noch durch die von Fachleuten prophezeite Lira-Abwertung — sie ist bis heute nicht erfolgt — in irgendeiner Weise gestört. Aber wer fährt noch nach Italien, wenn er nicht mehr baden darf? Untersuchungen des Meerwassers, die im Auftrag des Hygiene- und Sanitätsministeriums durchgeführt wurden, brachten eine Verschmutzung zutage, die teilweise schon um das Zwölffache über der Toleranzgrenze des für den Menschen noch Erträglichen liegt. Das ist einerseits die Folge der ungeheuren Industrieentwicklung, anderseits aber auch der sehr fahrlässigen Behandlung der Gewässer durch die Bevölkerung. Die Hitzewelle der letzten Wochen — 34 bis 38 Grad Celsius waren an der Tagesordnung — ließ die Massen aus den Städten an die Küsten strömen. Aber die großen Badestrände sind gesperrt und werden auch schon infolge der alarmierenden Meldungen vom Publikum gemieden. Auch Prominentenbadestrände, an denen italienische Sänger, Schauspieler und Vertreter der High-Society ihre Villen besitzen, blieben natürlich von der Verseuchung nicht verschont. Ob Minister Mariotti sich pessimistisch dahingehend äußert, daß die technische Entwicklung, wie in anderen Ländern auch, die vorhandenen Möglichkeiten der Behörden und einer hygienischen Anforderungen entsprechenden Überwachung einfach überrollt und damit zunichte gemacht habe, oder ob man feststellt, daß in Italien noch weniger zur Reinhaltung der Gewässer geschehen sei als in anderen Ländern — ein Faktum bleibt bestehen: die Verschmutzung der Gewässer — des Meeres und auch der Flüsse — ist enorm.

Tiber, Arno, Po haben keinen Fischbestand mehr, denn in diese Flüsse ergießen sich die Abwässer der großen nord- und mittelitalienischen Raffinerien ohne jede Einschränkung. In Riccione und in Rimini fürchtet man den Wind, der von Norden kommt: er schwemmt den Schmutz aus dem Hafen und aus den Kanalanlagen auf die südlich gelegenen Badestrände zu. Ein Feriengast des feudalen Grand Hotel von Riceione erzählt von toten Ratten am Strand. Die italienischen Seen sind übrigens nicht weniger von der Verschmutzung bedroht, denn es gibt bis jetzt keinerlei Einschränkung der Fahrrechte für Motorboote. Noch gibt man sich am Gardasee und an den übrigen norditalienischen Badeseen optimistisch. „Der Gardasee hat bisher kein bedenkliches Ausrriaß an Verschmutzung erreicht“, stellte das Hygieneinstitut für die Provinz Verona fest. Urlauber berichten allerdings schon anderes. In den Buchten von Desenzano, Sir-mione oder Gardone Riviera sieht man an windstillen Tagen bis weit in den See hinaus eine von den zahlreichen Motorbooten herrührende ölschicht auf dem Gewässer schillern. Überdies werden die Fäkalien aus den Toiletten der Hotels und Gaststätten oft allzu nahe dem Badeufer in den See geleitet. Katastrophal aber ist die Lage bereits an den großen und besonders stark besuchten Adria- und Mittelmeerstränden. In Ostia, Fregene und Pevere darf nicht mehr gebadet werden, ebensowenig rund 20 Kilometer links und rechts von Genua, denn hier fließen Industrieabwässer, die schärfste Chemikalien enthalten, ins Meer. Gefährdet sind ferner die nordadriatischen Badeorte, denn die Industrieabwässer von Mestre fließen in die Lagunen und nahen Flüsse und gelangen so schließlich ins Meer, österreichische Hygieniker erhoben schon vor zwei Jahren war nend ihre Stimme und sprachen — im Hinblick auf die zahlreichen Urlauber aus Österreich in Jesolo, Bi-bione, Lignano und Caorle — vom gefährlichen Ausmaß der Verschmutzung dieses Teils der Adria. Die gleichen Gefahren — von denen man aber in Anbetracht der noch läufenden Saison nicht offen spricht — bedrohen auch Triest, den Golf von Neapel und die Küste von Ravenna bis Cattolica — und wahrscheinlich viele andere auch.

Um Kläranlagen zu bauen, die schon für das nächste Jahr Abhilfe schaffen könnten, wären Milliardenbeträge erforderlich. Diese sind aber in Anbetracht der innenpolitischen Lage nicht vorhanden. Zentrale Stellen in Rom befürchten daher, daß man im nächsten Jahr nicht nur Warnungen an Badelustige richten, sondern auch etliche Strände wird sperren müssen. Das hieße aber, dem für Italien unbedingt erforderlichen Fremdenverkehr, dem Devisenbringer Nummer eins, einen schweren und nicht so leicht wiedergutzumachenden Schlag versetzen.

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