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Hafenstädte leben gefährlich

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Tanker, die Flüssiggas transportieren, können einen ganzen Stadtteil in die Luft jagen, genau wie die Explosion zweier Munitionsschiffe nach einer Kollision im Hafen von Halifax während des Ersten Weltkriegs zwei Drittel der Stadt zerstörte und 1.600 Menschen tötete. (Beim großen Erdbeben von San Francisco zehn Jahre zuvor gab es „nur“ 452 Tote.) Manche dieser Kolosse gleichen schwimmenden chemischen Tanklagern mit gefährlichen Chemikalien, die innerhalb sehr enger Temperatur- und Druckbereiche gehalten werden müssen, um nicht zu explodieren. Ein beträchtlicher Anteil der weltweiten Produktion an Schwefelsäure, Vinyldichlorid, Azetataldehyd undj Trichloräthylen et cetera wird von Tankern durch Wind und Wetter befördert, die praktisch keinerlei Bestimmungen unterliegen, häufig Schrottkisten in miserablem Zustand, die für ihre Fracht mangelhaft konstruiert wurden.

Man fragt sich, ob diese giftigen Substanzen auf so billigen, aber gefährlichen Schiffen transportiert werden müssen. 1971 zum Beispiel sank vor der Küste Uruguays die „Tagnari“ samt 25 Tonnen Quecksilber. Das Wrack, wurde trotz der gefährlichen Ladung nicht geborgen, da die Bergungskosten zu hoch gewesen wären. Man überließ die Fässer sich selbst, bis etwas passieren würde. 1978 war es so weit — die Fässer barsten. Ganze Dörfer mußten evakuiert und ins Landesinnere verlegt werden; Tausende von toten Meerestieren wurden an den Strand geschwemmt, weitere Tiere an Land und wahrscheinlich auch Menschen fielen der Giftkatastrophe zum Opfer.

Die amerikanische Coast Guard führte für 15 verschiedene gefährliche Chemikalien eine Computersimulation durch, um jeweils die Auswirkungen eines zwei Meter langen Tankrisses bei einem im Hafen vertäuten Schiff abschätzen zu können. Die Ergebnisse waren alarmierend. Ein relativ kleiner Tank, gefüllt mit Chlorgas, der auf den Docks von Coney Island bersten würde, hätte den sofortigen Tod von 75.050 Menschen zur Folge. Eine Katastrophe solchen Ausmaßes ist innerhalb der nächsten 30 Jahre durchaus wahrscheinlich.

Das Problem ist nach meiner Meinung in der Art des bestehenden Systems begründet. Ich möchte es als ein „fehlerinduzierendes“ System bezeichnen; die Konstellation seiner zahlreichen Komponenten induziert Fehler und vereitelt alle Bemühungen, die Fehleranfälligkeit zu verringern. Der Erfolg einzelner Versuche, dieses oder jenes zu korrigieren, wird durch neu auftretende Fehler zunichte gemacht; einzig eine völlige Neukonzeption des Systems von Grund auf wäre in der Lage, die einzelnen Systemteile fehlerneutral oder fehlervermeidend miteinander zu verbinden ...

Die identifizierbaren Opfer gehören vorwiegend der Unterschicht an, es sind gewerkschaftlich nicht oder kaum organisierte Seeleute; die Opfer dritten Grades von Umweltverschmutzung und ausgelaufenen giftigen Substanzen sind anonym und zufällig betroffen, und die Auswirkungen der Unfälle zeigen sich häufig erst sehr viel später. Es gibt keine Führungskräfte aus Wirtschaft oder Politik, die mit Tankern unter liberianischer Flagge reisen würden... Die Aktivitäten der

US-Regierung sind sehr begrenzt, die von ihr ergriffenen Maßnahmen ungeeignet. Ihr Haupteinfluß besteht darin, die Werft- und Schiffahrtindustrie der USA zu fördern. Sie legt zwar Normen für die Schiffe fest, die in amerikanischen Häfen anlegen, aber im Hinblick auf <lie Sicherheit ihrer Schiffe rangieren die USA auf dem 14. Platz, so daß diese Normen nicht besonders streng sein können. Und schließlich hat der einzige internationale Verband, der für Sicherheitsfragen zuständig ist, nur beratende Funktion und kümmert sich in der Hauptsache um nationale wirtschaftliche Interessen.

Für ein fehlerinduzierendes System wie dieses ist nach meiner Meinung kein einzelnes Versagen verantwortlich. Offenbar ist es vielmehr die spezifische Kombination von Systemkomponenten, die eine Induzierung von Fehlern begünstigt. Ein noch so auf Sicherheit angelegter und durchdacht konstruierter Shell-Tanker kann jederzeit von einem vagabundierenden Frachtschiff gerammt werden, das eine ganze Reihe von Vorschriften verletzt hat; eine Verbesserung des Funkverkehrs kann in Wirklichkeit eine Verschlechterung bedeuten, weil jetzt viel mehr als bisher belanglose Plaudereien die Frequenzen blockieren; Systeme zur Vermeidung von Kollisionen werden durch höhere Geschwindigkeiten unterlaufen; größere Tanker, aufgrund derer die überaus unfallträchtigen Hafenmanöver verringert werden können, bringen die Gefahr nicht nur schwererer, sondern auch häufigerer Explosionen mit sich, da (nach einer Studie von Shell) unvorhergesehene und undurchschaubare Prozesse in den riesigen Tanks ablaufen.

Gekürzt aus: „Normale Katastrophen“ von Charles Perrow, Campus Verlag, Frankfurt/ New York 1988.

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