6633374-1956_52_08.jpg
Digital In Arbeit

Stätte der Begegnung

Werbung
Werbung
Werbung

An der Weser liegt das Städtchen Vlotho, abgeschieden vom Strom der großen Verkehrsstraße. Abseits von dem Städtchen steht ein Haus, das sich „Stätte der Begegnung“ nennt und in welchem ständige Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen stattfinden. Es treffen sich dort die ältere und jüngere Generation, Arbeiter und Studenten, Einheimische und Vertriebene, Christen und NichtChristen, Angehörige des Widerstandes und ehemalige Nationalsozialisten.

Es war sehr interessant, lediglich als Zuhörer an einer solchen Tagung teilzunehmen, bei welcher Studenten beider Zonen zusammentrafen, um über das Eigentum im modernen Sinn zu diskutieren. Obwohl sich hier die krassesten Gegensätze trafen, war das Niveau sehr hoch, und ohne Haß und Voreingenommenheit sprachen beide Teile über das, was beide wollten: die Wiedervereinigung der Ost- und Westzone, und was einmal werden könnte, wenn es wieder zu einem Zusammenschluß der beiden getrennten Hälftgn käme.

Aus der Westzone nahmen auch junge, aufgeschlossene Unternehmer teil, die vor allem jenen Status besprachen, der von ihrem Standpunkt aus im Zeitpunkt einer Wiedervereinigung gegeben wäre.

Aus der Einladung zu dieser Tagung ging hervor, daß man erst dann von einer Wiedervereinigung Deutschlands sprechen kann, bis in beiden Hälften selbst die gegebenen Voraussetzungen geprüft sind. „Ein plötzlicher Entschluß der großen Mächte, die Einheit wiederherzustellen, hülfe uns noch wenig; wir können ihn aber auch nicht erwarten, entsteht nicht durch unser eigenes Tun ein ebenso politisch wie moralisch begründeter Zwang für die Verantwortlichen der Weltpolitik, die deutsche Einheit herzustellen“, heißt es in der erwähnten Einladung zu der Tagung.

Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Formen hüben und drüben zu prüfen, ist nun der Sinn und Zweck dieser Begegnung. Die Westdeutschen bekennen, daß sie immer wieder prüfen müssen, was bei ihnen zu geschehen hätte, damit die Wiedervereinigung eine wahre Vereinigung des deutschen Volkes werde.

Von westdeutscher Seite wurden die Möglichkeiten der Eigentumsbildung in der heutigen Gesellschaft diskutiert. Hiebei wurden alle jene bekannten Möglichkeiten der Ertrags-Erfolgs-^ Beteiligung und des Investmentsparens, im besonderen im Hinblick auf die katholische Soziallehre, besprochen. Die Vertreter der Ostzone sprachen grundsätzlich nicht von der marxistischen Eigentumsfrage, sondern stellten in den Vordergrund die Achtung der ethischen Grundgedanken ihrer Kollegen aus der Westzone. Aus ihnen klang immer wieder die Sorge, es könnten wieder — im Falle einer Vereinigung — allmächtige wirtschaftliche Vereinigungen den Anstoß für eine faschistische Politik geben. D i e Wiedervereinigung hänge grundsätzlich von der sozialen Neuordnung ab und diese wiederum von der Frage, in welcher Weise die derzeit volkseigenen Betriebe weitergeführt werden. Ihre größte Sorge ist, daß die Vorbesitzer wieder ihre Betriebe zurückerhalten könnten und damit wieder der alte Klassenkampf in den Betrieben auflebt. Auch in der Frage der Bodenreform haben sie die Sorge, daß diese wieder rückgängig gemacht werde; auch diesbezüglich ist eine Voraussetzung, daß die westlichen Güter in den Händen der derzeitigen Eigentümer verbleiben.

Schließlich wurde um den Komplex der Beteiligungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer diskutiert, die derzeit in der Westzone alle Teile des Volkes umfassen. Diesen Zustand der Entwicklung einer neuen Form der Stellung der Arbeitnehmer wollen sie erhalten.

Die Westdeutschen lehnen grundsätzlich jede Verstaatlichung ab, da sie fürchten, daß diese dann auch auf die westdeutsche Hälfte übergreift. Dem stellen die westdeutschen Vertreter die Möglichkeit gegenüber, die derzeit als volkseigen bezeichneten Betriebe in der Ostzone auch real in die Hände der Arbeiter zu legen, wobei daran gedacht ist, 70 Prozent des Aktienkapitals den Arbeitern zu übertragen und 3 0 Prozent zur Ablöse der Vorbesitzer zu verwenden, so daß tatsächlich in diesen Betrieben die Belegschaft als Mehrheit der Aktienbesitzer aufscheinen würde. Dieser Vorschlag scheint auf den ersten Augenblick so unglaublich — doch sollen nur Tatsachen wiedergegeben werden, wobei jede Gewähr für die reale Durchführung eines solchen Projektes noch sehr angezweifelt werden muß. Interessant ist, daß diesem Vorschlag auch Vertreter der Unternehmerschaft zugestimmt haben, von denen angenommen werden muß, daß sie eine solche Zustimmung nicht persönlich gegeben haben, sondern nach Absprache mit ihrer Berufsvereinigung. Weiter ist für uns interessant, daß sich die Westdeutschen im Falle einer Vereinigung hinsichtlich solcher Betriebe in einer ähnlichen Lage befinden wie Oesterreich hinsichtlich der Betriebe deutschen Eigentums. Der Vertreter der Westdeutschen sah in der Mitbeteiligung der Arbeiter und Angestellten eine Möglichkeit der Lösung dieser Frage.

Die „Stätte der Begegnung“ scheint tatsächlich ein Ort zu sein, an dem die grundlegenden. Besprechungen für die künftige Wiedervereinigung stattfinden. Der Form nach ist diese Stätte eine Vereinigung, um — nach den Satzungen — „Begegnungen von Menschen verschiedenster geistiger, sozialer und politischer Richtungen und Schichten zu den wesentlichsten Lebensfragen herbeizuführen, den Gedanken der Begegnung als Grundlage mitbürgerlicher Zusammenarbeit zu verbreiten und alle sich aus dieser Zielsetzung ergebenden Aufgaben wahrzunehmen“. Diese „Stätte der Begegnung“ will auf das öffentliche Leben ausgleichend wirken und damit der Festigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dienen. Ihre Grundsätze sind: „Offensein füreinander. Achten des Andersdenkenden, Bereitschaft zur Versöhnung mitten im Streit.“

Interessant ist auch, daß sich unter diesen jungen Menschen neue Formen zu entwickeln beginnen, die sich in Zeichen, im Gruß, beim Mittagstisch, durch Reichen der Hände, vollziehen.

Im Kuratorium dieser Vereinigung sitzen Politiker aller Fraktionen und Regierungsmitglieder. Vom Juli 1951 bis Ende 1955 haben 65 größere Begegnungen stattgefunden, an denen etwa 5000 Menschen teilgenommen haben. Die Wirkung dieser Begegnungen beruht vor allem auf dem lebendigen Gespräch. Es geht den Teilnehmern nicht um demagogische Effekte, sondern um die Ueberzeugungskraft glaubwürdigen Menschentums. Auch im Zusammenführen junger und älterer Generation erhält diese Stätte ihre besondere Prägung. Vor allem aber dient — wie aus der erwähnten Tagung bereits erkennbar ist — diese Stätte der Auseinandersetzung der östlichen und westlichen Gedanken und Seinswelt.

Junge Menschen wachsen hier heran. Interessant sind deren Aeußerungen zu diesen Bemühungen von West und Ost. Es wird immer von ihnen hervorgehoben, daß das wesentlichste an diesen Begegnungen ist: sich freimütig aussprechen zu können. „Manche Jugendliche sind sich über ihre eigene Position im unklaren, sie haben Zweifel an allem. Gerade das macht anfällig für Ideologien, die mit Staubzucker bestreute Steine als Brot anbieten. So wurde die Ost-West-Tagung trotz der reichlichen Kritik am eigenen Lager durchaus als Stärkung empfunden.“ — Dies ein Beispiel von vielen.

Es ist viel Gutes und Positives an den beiderseitigen Absichten. Vielleicht ist diese „Stätte der Begegnung“ sogar die Voraussetzung für die Ueberwindung von Schwierigkeiten im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands. Natürlich birgt diese Begegnung aber auch manche Gefahr in sich. Es kann hier nicht nur der Osten vom Westen, sondern auch der Westen vom Osten mit einem ihm durchaus fremden und gefährlichen Gedankengut infiziert werden. Trotzdem muß auch dieser „Stätte der Begegnung“ über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung geschenkt werden. Wenn sie dem ehrlichen Bestreben nach Wiedervereinigung und einer sozialen Neuordnung dient, dann wird an ihr nichts auszusetzen sein. Voraussetzung aber ist die Gestaltung einer solchen sozialen Neuordnung und daß sie immun ist gegen alle Krankheitskeime der östlichen Hemisphäre.

Wir kennen in Oesterreich — Gott sei Dank — die Probleme einer Wiedervereinigung nicht, denn wir sind eine Einheit geblieben und hatten das Glück, nicht geteilt zu werden. Dies enthebt uns freilich nicht der Aufgabe, auch unsere Ohren für solche Auseinandersetzungen offen zu halten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung