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Bekenntnisse eines ehrlichen Verlierers

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„Das Problem de Gaulle heißt nicht de Gaulle.“ fön französisches Bonmot? Doch mehr: Ausdruck eines tiefen Unbehagens, ja einer großen Sorge, die quer durch weltanschaulich und politisch sehr verschiedene Gruppen und einzelne im heutigen Frankreich geht. Es geht hier, recht verstanden, nicht um de Gaulle: um die Person des „Generals“, sondern um das „System“ und die Männer, die jetzt Macht ergriffen haben und immer noch mehr Macht ergreifen. Eben dieser Vorgang einer Machtübernahme, die unkontrollierbar, unangreifbar scheint und von der niemand sagen kann, wie weit sie gehen wird, hat etwas Unheimliches an sich für sehr viele aufrichtige Franzosen, angefangen von Franęois M a u r i a c, dem großen katholischen Publizisten und Demokraten, bis zu Kreisen, die von Haus aus dem de Gaulle von 1942 sehr nahe standen. Diese innere Situation Frankreichs wirft heute bereits ihre Schatten auf Europa. Die „Furche“ hält es deshalb für ihre Aufgabe, ihrem Leserkreis diese andere Seite vorzustellen, und läßt sie durch die Feder einer Persönlichkeit des Pariser geistigen Lebens zu Wort kommen: als einen Beitrag zur Unterrichtung, zur Meinungsbildung. Die Zukunft wird gerade auch in Oesterreich von allen Staatsbürgern, die es mit der Freiheit emst meinen, angestrengte Wachsamkeit verlangen.

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„Das Problem de Gaulle heißt nicht de Gaulle.“ fön französisches Bonmot? Doch mehr: Ausdruck eines tiefen Unbehagens, ja einer großen Sorge, die quer durch weltanschaulich und politisch sehr verschiedene Gruppen und einzelne im heutigen Frankreich geht. Es geht hier, recht verstanden, nicht um de Gaulle: um die Person des „Generals“, sondern um das „System“ und die Männer, die jetzt Macht ergriffen haben und immer noch mehr Macht ergreifen. Eben dieser Vorgang einer Machtübernahme, die unkontrollierbar, unangreifbar scheint und von der niemand sagen kann, wie weit sie gehen wird, hat etwas Unheimliches an sich für sehr viele aufrichtige Franzosen, angefangen von Franęois M a u r i a c, dem großen katholischen Publizisten und Demokraten, bis zu Kreisen, die von Haus aus dem de Gaulle von 1942 sehr nahe standen. Diese innere Situation Frankreichs wirft heute bereits ihre Schatten auf Europa. Die „Furche“ hält es deshalb für ihre Aufgabe, ihrem Leserkreis diese andere Seite vorzustellen, und läßt sie durch die Feder einer Persönlichkeit des Pariser geistigen Lebens zu Wort kommen: als einen Beitrag zur Unterrichtung, zur Meinungsbildung. Die Zukunft wird gerade auch in Oesterreich von allen Staatsbürgern, die es mit der Freiheit emst meinen, angestrengte Wachsamkeit verlangen.

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Entweder beglückwünschen uns ausländische Freunde zur unerhofften Schicksalswendung oder sie drücken uns ihre Besorgnis schonungsvoll aus, aber das Verwirrende an der französischen Lage seit dem siegreichen Bürgerkriegsspiel der zweiten Maihälfte liegt eben darin, daß sich in unserem Leben nichts Greifbares geändert hat: Gedanke und Wort wären sogar beinahe freier, falls wir von dieser Freiheit Gebrauch machen wollten, als in den letzten Jahren der Vierten Republik. Nur haben wir keine Probleme mehr, denn die Probleme Frankreichs gehen uns nichts mehr an: Wir haben unsere Blankovollmacht erteilt und uns jeder weiteren Verantwortung mehr oder weniger absichtlich und bewußt entledigt; die es ablehnten, oder nur bedingt zustimmen wollten, sind eine unbedeutende Minderheit ohne jedes politische Gewicht. Jetzt liegen die Entscheidungen ausschließlich in der höchsten Sphäre, bei General de Gaulle selbst und bei der Leitung jener politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die sich am ausdrücklichsten auf ihn berufen. Was am X. Juni begonnen hat, was durch die Volksabstimmung vom 28. September und die Parlamentswahlen vom 23. und vom 30. November legalisiert wurde, ist eine Monarchie mit republikanischen Umgangsformen.

Ob sich das neue Regime wird behaupten können, und zwar unter Beibehaltung dieser freiheitlichen Umgangsformen, ob ihm also die Lösung jener Lebensaufgaben gelingen wird, die zu lösen alle früheren Regierungen unfähig waren, hängt von drei Faktoren ab, bei denen alle auf Rätselraten angewiesen sind. Zwar köri- nen wir den Geist vermuten, der de Gaulles Politik beseelen wird: eine sonderbare Mischung von Jahrhundertsfremdheit und prophetischem Weitblick, von tastender Schlauheit und ritterlicher Großmut. Es gereicht ihm zum Beispiel ebensosehr zur Ehre, wie seinen Vorgängern zur Schande, daß in Algier seit seiner Machtergreifung nicht mehr guillotiniert wird. Nur in einem solchen Geist kann, wenn noch überhaupt, das algerische Problem gelöst werden. In welche eigentliche politische Maßnahmen gedenkt aber de Gaulle diesen Geist umzusetzen?

Möglicherweise in die richtigen. Ob aber jene Männer und Kräfte, die sich so laut auf ihn berufen und denen er seine Macht verdankt, vom gleichen Geist beseelt sind und mit den historisch richtigen Lösungen einverstanden wären? In der Armee, in den Regierungskreisen, in der Parlamentsmehrheit findet man zwar lautere Charaktere, wie den Pensionsminister Edmond Michele t, aufgeschlossene Geister, Männer erprobter Treue, ohne geistige Selbständigkeit, aber selbstlos, die unter allen Umständen folgen würden; aber auch dunkle Ehrgeizlinge, nationalistische Scheindenker, bornierte Chauvinisten, Vertreter rückständiger Interessen und sogar einzelne Faschisten. Es wird de Gaulle schwer möglich sein, eine richtige Politik ohne einen Bruch mit einem Teil seiner Anhängerschaft durchzusetzen. Ist er zu diesem Bruch bereit, dann stehen wir vor der dritten Frage: Wer würde der Stärkere sein?

Vom rein politischen Standpunkt betrachtet, bietet die Lage mehr Gründe zum Pessimismus als zum Optimismus, aber in ihrer Ungewißheit ist eben doch für Hoffnung Platz, und jedenfalls gibt es augenblicklich keine Kraft, die eine Ersatzlösung. durchsetzen oder auch nur Vorschlägen könnte.

Eindeutig beunruhigend ist aber die geistige Lage, das psychologische Klima des politischen Lebens. Richtiger gesagt: Es gibt kein politisches Leben mehr, und der politische Prozeß, ob nun erfreulich oder nicht, vollzieht sich in einer erdrückenden Atmosphäre der kollektiven Apathie und Denkfaulheit. Daß nur die wenigsten unter den Wählern, die sich mit massiver Mehrheit für die neue Verfassung aussprachen, den Text auch nur flüchtig gelesen hatten, ist an und für sich bedeutungslos: nicht um eine Verfassung ging die Wahl, sondern um einen Mann. Warum aber wurde dieser Mann gewählt? Weil er schon da war und die Macht besaß. Dies geschah nicht aus Furcht, nicht aus Begeisterung, sondern aus Müdigkeit: ein Mann war da, mit einer Uniform, auf den man alle Verantwortung abwälzen konnte, und, was er auch damit anfangen sollte, so ersparte man sich wenigstens die Anstrengung des eigenen Nachdenkens und Wollens und nahm Urlaub von den Problemen.

Noch bezeichnender ist das Ergebnis der Parlamentswahlen: Obwohl General de Gaulle wahrscheinlich ein gewisses parlamentarisches Gleichgewicht wünschte, erhielt die neugegründete UNR. eine Machtstellung und, zusammen mit den „Unabhängigen“ (Konservativen) und den „Vertretern“ Algeriens, die absolute Mehrheit. Die Wählerschaft hat also jene Männer und Parteien gewählt, die sich am lautesten auf einen Namen beriefen, und deren Programm sich am leichtesten auf das Symbol des lothringischen Kreuzes zurückführen ließ (ob der laute Gaullismus der Unabhängigen mehr der Ueberzeugung oder der Konjunktur entspringt, soll dahingestellt bleiben); sie hat sich von den Kandidaten und Parteien abgewendet, deren Propaganda ihr die geringste geistige Anstrengung zumutete. Die Tatsache, daß der Wahlerfolg meistens in umgekehrtem Verhältnis zur Besucherzahl der Versammlungen stand, zeigt anschaulich die Kluft, die das Gros der Wählerschaft von deren politisch irgendwie bewußten und gebildeten Elementen trennt. Mit beängstigender Treffsicherheit sjjid die denkęnden Köpfe, ausgeschaltet worden. Dies gilt nicht nur für die Gruppen und Männer der Opposition, für Mitterand und Mendes-France, für die Vereinigte Linke Claude Bourdets und für idealtreue Sozialisten wie Depreux und Verdier, sondern auch für Linksgaullisten wie Clostermann und Oberst Barberot, für disziplinierte, aber geistig profilierte Mol-

letisten wie Defferre und Jules Moch oder für den gescheiten Opportunisten Edgar Faure. Systematisch wurde die Mittelmäßigkeit gewählt.

Die Kommunisten, die Partei, die sich ungestraft mit den blutigen Orgien des Persönlichkeitskults und der ungarischen Repression solidarisch erklärt hatte, verlieren zwar durch ihre Ablehnung einer anderen Form der geistigen Abdankung ein Viertel ihrer Stimmen. Diese Niederlage eines Ungeistes ist aber noch lange kein Sieg des Geistes.

Auch in den Fällen, wo die Wähler ihrer bisherigen Partei treu geblieben sind, handelt es sich um pawlowsche Reaktionen auf altgewohnte Schlagworte, unabhängig davon, ob die konkrete Politik der betreffenden Partei mit dem Schlagwort in Einklang gestanden war oder nicht: nur so kann zum Beispiel die stimmenmäßige Stabilität der sogenannten Sozialistischen Partei erklärt werden. In ihrer Beharrlichkeit wie in ihren Launen hat sich die öffentliche Meinung problemscheu gezeigt. Richtiger gesagt: es gibt keine öffentliche Meinung mehr.

Gewiß ist diese Paralyse des öffentlichen Geistes nicht erst in der zweiten Maihälfte eingetreten, noch ist sie auf Frankreich beschränkt. In Frankreich aber ist in den letzten zweieinhalb Jahren (seit der Kapitulation Guy Mollets vor dem weißen Mob Algiers) die längst schleichende Krankheit akut geworden, und jetzt wird ihr Weitergreifen staatlich gefördert: auch dies ist nicht ganz neu, aber diesmal geschieht es mit Geschicklichkeit und Konsequenz. Gesetzgebung und Regierungspraxis bleiben freiheitlich, aber der Apparat der offiziellen und offiziösen Propaganda funktioniert halb totalitär. Ein Großteil der Tagespresse hat sich spontan gleichgeschaltet. Der (früher schon ziemlich abhängige) Rundfunk hat fast völlig aufgehört, ein Informationsmittel zu sein: daß wichtige Nachrichten bagatellisiert oder retuschiert, daß unbedeutende groß auf-

gemacht werden können, daß man mit sorgfältig ausgewählten und zweckmäßig beleuchteten Teilwahrheiten lügen kann, war schon bekannt. Neu ist aber, daß eine staatliche Einrichtung eines Rechtsstaates die Opponenten, und vorzüglich die Intellektuellen, heimtückisch oder offen diffamiert, des Kommunismus verdächtigt, als geistig rückständige oder charakterlich zweifelhafte Elemente hinstellt, und den momentan Besiegten den Eselsfußtritt gibt. Dies ist großteils den zielbewußten Bestrebungen eines leider hochbegabten Ministers zuzuschreiben. Die persönliche Verantwortlichkeit des Landesvaters an diesem geistigen Tiefstand ist aber nicht zu unterschätzen: er duldet diese übereifrige Ser- vilität, duldet, daß das triumphierende Philistertum eines Jean Nocher allabendlich als die Stimme des „neuen Frankreichs“ erklinge, und ist anscheinend außerstande, Gegnern, die er persönlich schätzt, den verdienten Respekt zu sichern. Auch hat die orakelhafte Vieldeutigkeit und absichtliche Undeutlichkeit seiner Erklärungen, bei ihrem unleugbaren literarischen Rang und ihrer vermutlichen taktisch-politischen Notwendigkeit, die Arbeit dieser narkotischen Propaganda wesentlich erleichtert. Es ist zutiefst tragisch, daß dieser Entgeistigungsprozeß des politischen Lebens sich gerade unter dem durchgeistigtesten Staatsmann vollzieht, den Frankreich seit dem Tode Leon Blums gekannt hat, und daß die Wahlsiege de Gaulles zugleich Siege der Verdummungstechniken bedeutet haben.

Noch tragischer: Es handelt sich nicht um einen Zufall, sondern um die logische Konsequenz einer politischen Philosophie:

„Mir erscheint Frankreich“, schreibt de Gaulle ant Anfang seiner großartigen Memoiren, „als eine Märchenprinzessin oder Freskenmadonna . .. Die Vorsehung hat es zu vollkommenem Gelingen oder exemplarem Unglück bestimmt. Wenn jedoch Mittelmäßigkeit seine Handlungen zufällig kennzeichnet, kommt mir dies vor als eine Abnormität und Absurdität, die den Fehlern der Franzosen, nicht dem Wesen Frankreichs zuzuschreiben ist.“

Frankreich existiert also unabhängig von den Franzosen und wirklicher als sie: diese sind nicht Gestalter, sondern bestenfalls Instrumente, nicht die Substanz, sondern eine potentiell gefährliche Begleiterscheinung der Nation: der Wille Frankreichs ergibt sich nicht aus dem Willen der Franzosen, der eher Hindernis als Treibkraft und Anregung sein kann, sondern entspringt einer überzeitlichen. Essenz, - ujid.verkörpert sich während der nationalen Krisen in einem Auserwählten, der ihn ausdrückt und vollstreckt. Nicht als Diktator: de Gaulle befiehlt nicht gerne, auch den Generälen nicht. Was er will, ist die Zustimmung, und weiter nichts: er will die vergänglichen Franzosen davon überzeugen, daß sie Frankreich sollen walten lassen, daß sie sich in dessen Schicksalsprobleme nichteinmeneen sollen. Was gebraucht wird — nicht verlangt, sondern gewünscht —, ist Disziplin und Vertrauen: nicht der aufdringlich eifrige Glaube, sondern das ruhig wartende Vertrauen; nicht die Stille der Unterdrückung, sondern der freiwillige Verzicht auf Diskussionen, die den Berufenen bei der ernsten Arbeit nur stören würden.

Der großartige Traum eines Architekten des Wortes und Gedankens! Aber der Versuch, mit Menschen so zu operieren wie der Architekt mit Bausteinen, führt nur Erstarrung herbei.

Vielleicht wird es General de Gaulle gelingen, ein materiell blühendes, befriedetes und zufriedenes Frankreich zu hinterlassen. Was wird aber inzwischen mit dem geistigen Frankreich geschehen sein, mit der französischen Tradition der Kritik und des selbständigen Denkens, des Freischärlerkampfes gegen Unwahrheit, Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit? Wo wird die französische Intelligenz zu finden sein? In Gefängnissen? Nicht sehr wahrscheinlich; so lange wenigstens nicht, als de Gaulle selbst an der Macht bleiben wird. Unter diskreter Polizeiaufsicht? Dies wäre bloß die Fortsetzung eines längst gewohnten Zustands. Am wahrscheinlichsten in der inneren Emigration.

Aber Emigranten haben ihre besonderen, bitter-stolzen Freuden und die vage Hoffnung auf siegreiche Heimkehr.

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