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Die eine Welt

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Denn die Welt ist eine Welt geworden, es gibt keine glücklichen, sorglosen Inseln mehr. Alle Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation dürfen nicht über das Grunddilemma der weltpolitischen Situation hinwegtäuschen. „Kunst und Wissenschaft haben uns zu einem hohen Grad kultiviert. Wir sind zivilisiert durch vielerlei Arten von gesellschaftlichen Nettigkeiten und Verfeinerungen. Jedoch um uns wahrhaft ethisch nennen zu dürfen, fehlt noch sehr viel... Solange die Staaten ihre ganze Macht für vergebliche und gewaltsame Expansion benützen und so stetig die allmählichen Versuche ihrer Bürger nach innerer Entwicklung korrumpieren...“ (Kant).

Doch darf über diesem Appell, daß alles getan werden müsse, um gegen die Mißachtung der Menschenrechte in der Welt zu protestieren und aktiv zu werden, nicht vergessen werden, daß dieser Sprung vom befriedeten Nationalstaat zum Weltfriedensverband auch eines gründlichen Durchdenkens und Neufor- mulierens der allgemeineren politischen, juristischen und philosophischen Aspekte der gegenwärtigen und der erwünschten Situation bedarf. Das Problem der Transformation der einzelnen nationalen Rechtsverbände in einen internationalen Rechtsverband spielt bei der gegenwärtigen Diskussion in der

Lehre von den internationalen Beziehungen (ein Teilgebiet der politischen Wissenschaften, das im angelsächsischen Bereich intensiv gepflegt wird) und im Völkerrecht eine bedeutende Rolle.

Utopie und Völkerrecht

Professor Hans Kelsen, der Doyen der österreichischen Jurisprudenz,

hat zu diesem Problemkreis eine Reihe bedeutender Arbeiten geleistet, vornehmlich über die Theorie des Völkerrechtes und die Interpretation der Charta der Vereinten Nationen. In einem Sammelband, zu Ehren von Hans Kelsen (Law, State, and. International Legal Order. Essays in Honor of Hans Kelsen. Hrsg. v. S. Engel und R. A. Metall, 1964) beschäftigt sich John H. Herz, ein gebürtiger Österreicher und renommierter Politologe in den USA, mit den Grundlagen der Kelsenianischen Allgemeinen Theorie des internationalen Rechts. Herz charakterisiert diese „Theorie des internationalen Rechts als die gewissermaßen reifste Naturrechts- theorie, die in diesem Jahrhundert auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen entwickelt worden ist“. Es handelt sich in dieser Interpretation durch John H. Herz nicht um eine der hierzulande üblichen „Rettungen“ Kelsens für die naturrechtliche Schule in der Jurisprudenz, sondern um einen faszinierenden Versuch, die utopischen Elemente und Grundzüge in der Theorie des internationalen Rechtes, die von Hans Kelsen vertreten wird, herauszuarbeiten. Wir können im Rahmen dieser Ausführungen nur in recht oberflächlich und impressionistischer Manier auf die zugrundeliegende juristische und philosophische Problematik eingehen. Das Wesentliche ist, daß Kelsen aus der Grundhaltung seiner Reinen Rechtslehre heraus, Recht nicht anders als ein zusammenhängendes System von Normen und Sanktionen sehen' kann und so in die chaotische Wirklichkeit der internationalen Politik ein Rechtsgefüge hineinlegt, das nicht wie im nationalen Bereich bereits verwirklicht ist, sondern erst geschaffen werden muß. Grundlage jedes internationalen Rechts ist, daß Kriegshandlungen und andere Aggressionsakte Sanktionen nach sich ziehen, das heißt nicht unbestraft bleiben dürfen. Nun sind aber die Beziehungen zwischen den einzelnen Großmächten und Nationalstaaten der Welt noch immer vom Recht des Stärkeren, der Mißachtung der Voraussetzungen eines internationalen Rechtes bestimmt. Hans Kelsen muß so, um seine Theorie aufrechterhalten zu können,

Zusatzerklärungen und Ausweichhypothesen verschiedenster Art in sein System aufnehmen. So erklärt Kelsen, daß wohl in praxi die Beachtung der gesetzlichen Regeln in der internationalen Diplomatie zu wünschen übrig ließe, daß aber doch „kaum ein Beispiel denkbar sei, bei dem ein Staat nicht versucht hätte, seine eigenen Handlungen als gerechte Sache darzustellen“ (General Theory of Law and State, 1952

p. 332). Herz weist darauf hin, daß der Prüfstein für ein Bestehen eines internationalen Rechtes nicht in solch pseudomoralischen Justifika- tionsversuchen von kriegführenden Staaten gefunden werden könne, sondern daß vielmehr die Konkretisierung dieser Normen, das heißt die faktische Anwendung von Normen und Sanktionen, entscheidend sei. Spielregeln könnten für jede internationale Situation ausgedacht werden, das Wesentliche ist jedoch, ob die beteiligten Staaten einverstanden sind, diese auch anzuwenden; und das hängt von deren Willen ab.

Von einem Rechtssystem im Sinne der reinen Rechtslehre Kelsens kann auf dem Gebiete der internationalen Beziehungen nach Herz nicht die Rede sein, es bestünden nur Inseln und Teilbereiche, auf denen das Völkerrecht nicht nur Entwurf und Möglichkeit, sondern Aktualisierung und Anwendung bedeute.

Utopische Strahlkraft

Doch — was ist dann überhaupt der Wert eines internationalen Rechtes im Atomzeitalter, ist eine „Reine Theorie der Gewalt“ nicht viel realistischer und nötiger? Unsere Ära verlangt gerade nach einer „kontinuierlichen Annäherung“ an die von Kelsen abgesteckte internationale Rechtsordnung. „Es würde ein Paradoxon, aber doch auch wahrscheinlich in tiefstem Grunde eine höchste Erfüllung für einen großen Geist wie den Hans Kelsens bedeuten, wenn sich eine als ultrapositivistisch konzipierte Lehre schließlich als das verwirklichte Ideal einer staatlichen Gemeinschaft der ganzen Menschheit herausbilden würde.“ Es stellt sich heraus, daß ein positivistisches, das heißt am Gegebenen, Tatsächlichen orientiertes, Gesetzesdenken utopische Strahlkraft beweist, wenn es die Errungenschaften einer niederen oder besser begrenzteren Stufe — des Rechtsverbandes des Nationalstaates — auf eine höhere, umfassendere, die internationale Gemeinschaft aller Menschen und Völker der Erde überträgt.

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