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Die Gerechtigkeitsidee

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Als vor wenigen Wochen auf der Pariser Außenministertagung der Anspruch Österreichs auf Südtirol abgewiesen wurde, fühlten sich alle Österreicher in ihren Gefühlen zutiefst verletzt, zumal von der Außenministerkonferenz selbst keine nähere Begründung für die Ablehnung gegeben wurde. Nur im englischen Unterhaus äußerte sich Minister Noel Baker unter Berufung auf Außenminister Bevin, daß der ethnische Anspruch Österreichs auf Südtirol zwar zu Recht bestehe, diese Provinz aber gegenwärtig wirtschaftlich mehr an Italien als an Österreich gebunden sei.

Eine solche rein formal-juristische Begründung ist jedoch kaum geeignet, uns Österreicher von der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung zu überzeugen. Denn es handelt sich hier um das Grundrecht der nationalen Selbstbestimmung, das für die Gegenwart in der Atlantik-Charta von neuem feierlich verkündet worden war. Soll die heutige Menschheit wahrhaft zu dem Glauben an eine echte Demokratie bekehrt werden, so müssen auch alle Fehler vermieden werden, die einen solchen Glauben erschüttern können. Der Ablauf der Weltgeschichte, die Hinopferung von Hekatomben schuldloser Menschen müßte uns tatsächlich als vollkommen sinnlos dünken, wenn sie sich nicht letzten Endes als eine Katharsis, eine große Reinigung des Geistes offenbarte, welche es ermöglicht, daß die wiedergeborene Welt von einer neuen sinnvollen Ordnung erfüllt wird. In der Tat setzt nach großen kriegerischen Auseinandersetzungen meist eine umfassende Wiedergeburt des geistigen Lebens ein. So entfaltete sich zum Beispiel nach den Punischen Kriegen das römische Kulturleben, es entwickelte sich aus den Kämpfen der Völkerwanderungen die mittelalterliche Welt, und unter den Wehen des Dreißigjährigen Krieges wurde der Mensch des Barodks geboren.

Nur der erste Weltkrieg hat seine Opfer zunächst umsonst gefordert; denn er traf auf eine Generation, welche in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Geistesarmut oder Verblendung die Forderungen der Zeit nicht verstand oder zumindest zu schwach war, einer besseren Einsicht gemäß zu handeln. So blieben die spärlichen Bemühungen, die kurz nach dem ersten Weltkrieg eine Änderung des Zeitgeistes herbeizuführen sich anschickten, schon in den Anfängen stecken, während der Großteil oder zumindest der durch die Übermacht der rohen Gewalt zunächst maßgebliche Teil der Menschheit den schon vor dem ersten Weltkrieg begangenen Irrweg eines chauvinistischen Imperialismus weiterging und die einmal gefaßte fixe Idee in fanatischer Konsequenz bis zum maßlosen Irrsinn steigerte. Die Folge dieses Wahnsinns war der katastrophale Absturz in einen zweiten Weltkrieg von noch gigantischeren Ausmaßen, der nun aber hoffentlich der leidenden Menschheit endlich die klare Erkenntnis gebracht haben dürfte, daß das Machtstreben der letzten Generationen ein Abi rren vom wahren Wege, eine „Sünde wider den Geist“ bedeutet hat, für die wir heute büßen müssen.

Diese Erkenntnis der Welt allgemein zum Bewußtsein zu bringen, stellt eine der Hauptaufgaben der geistigen Situation unserer Zeit dar. Dabei ist jedermann zur Mitarbeit aufgerufen, dem es in seinem Bereiche obliegt, an dem kulturellen Leben der Gegenwart teilzunehmen. Der Ruf ergeht an den Künstler wie an den Philosophen, an den Techniker und den Theologen, und auch die Aufgabe, die des Juristen harrt, ist keine geringe; steht es doch ihm zu, den Schatz der Gerechtigkeit, des Fundaments des Staates, zu hüten.

Gerechtigkeit aber ist gerade jenes Gut, nach dem die Seele des heutigen Menschen nach so vielen Jahren der Rechtlosigkeit und Vergewaltigung in heißem Verlangen dürstet. Stellt sie doch einen jener ewigen Werte der abendländischen Kulturtradition dar, auf denen einst da gesamte geistige Leben Europas beruhte, bevor es in ungläubigen Skeptizismus und beschränkten Relativismus versank.

Denn heute kommt es auf allen Gebieten des kulturellen Lebens insbesondere darauf an, jene ewigen Wahrheiten der geistigen Tradition Europas wieder zu erwecken, welche außerhalb des Stromes der Entwicklung stehen und durch die jeweiligen zeitlichen Veränderungen nicht berührt werden. Es gilt, das Wissen um absolute Werte wieder zu pflegen, die unbedingt verpflichten und unbedingte Geltung haben.

Einen solchen absoluten Wert stellt in der Welt des Rechts der Gerechtigkeitsgedanke dar. Ihn schätzte Kant so hoch, daß er den Ausspruch tat: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, dann hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.“

Auch die Verfasser unseres Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches wußten um den hohen Wert der Gerechtigkeitsidee und betonten noch besonders im Artikel I des Kundmachungspatents, daß das Gesetzbuch „nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit“ abgefaßt sei. Schließlich erklärte auch Zeiller in einem seiner Referate, daß die innere Güte der Zivilgesetzgebung in der Gerechtigkeit bestehe, welche der hohe Zweck sei, dem alles übrige als Mittel untergeordnet werden müsse.

Indem die Redaktoren des österreichischen Gesetzbuches auf diese Weise den Gerechtigkeitsgedanken sozusagen als „natürliche Gerechtigkeit“ neben dem gesetzten Recht zur Rechtsquelle erhoben überwanden sie in vorbildlicher Art den ewigen Gegensatz zwischen der strengen Rechtsnorm und dem natürlichen Rechtsempfinden, der später insbesondere in Deutschland wegen des starren Systems des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches zu einem so heftigen Kampf geführt hat. Sie folgten hiebei den erhabenen Traditionen der Naturrechtslehre, welche in der Forderung gipfelt, daß die Idee der Gerechtigkeit sich in jedem positiven Gesetz zu verkörpern habe.

Dieser unbeirrbare Glaube an die ewige Idee der Gerechtigkeit verhalf dem Naturrecht immer wieder zu neuem Siege, insbesondere wenn es galt, starr gewordene Gesetze zu beseitigen und neue, den Idealen der Zeit angemessene Normen an deren Stelle zu setzen. Das Geheimnis der unverwüstlichen Lebenskraft des Naturrechts beruht eben in der ewigen Wahrheit, „daß über allem positiven Recht ein höheres Recht steht, ein Recht, aus dem der Gesetzgeber seine Weisheit nimmt und das den Maßstab bildet für die Kritik bestehender Gesetze“ (Wellspacher).

Diese Lehre wurde von Aristoteles bis Kant von allen bedeutenden Rechtsphilosophen des Abendlandes in ununterbrochener Tradition aufrechterhalten. Wer daher ernstlich darauf Anspruch erhebt, als Mitglied der europäischen Kulturgemeinschaft zu gelten, wird sich der Richtigkeit natur-rechtlichen Denkens schwer verschließen können und mit Entschiedenheit jeden positivistischen Versuch ablehnen, der die Gerechtigkeit als „metajuristisch“ aus dem Bereich der Rechtswissenschaft ausschließen und somit ein Recht ohne Gerechtigkeit aufbauen wollte.

Es muß endlich allen denen, die noch immer von der Skepsis des 19. Jahrhunderts befangen sind, mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß die Menschheit gegenwärtig alle Relativismen und Halbwahrheiten gründlich satt hat. Wie jede von echtem Idealismus getragene Generation ruft auch die heutige wieder nach absoluten Werten. Sie fordert daher auf dem Gebiete des Rechts die Wiedererweckung der naturrechtlichen Denkweise. Denn nur auf diesem Wege gelangen wir zur ganzen Wahrheit und vollen Gerechtigkeit!

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