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Die „Große Illusion“

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Das von der unabhängigen Presse initiierte Volksbegehren über die Radio- und Fernsehreform ist die Premiere der direkten Demokratie in Österreich. Politiker haben ihre Antipathie gegen diesen Akt des — mit ihrer Brille gesehen — politischen Dilettantismus geäußert, im Fernsehen sogar showmäßig exerziert. Parlamentarier haben von „Demagogie des Volkes“ gesprochen. Parteipresse und das offizielle Blatt der Republik haben geschwiegen.

Das Verhalten der Berufspolitiker und Parlamentarier ist für den begreiflich, der weiß, daß Parlamentarismus und Demokratismus verschiedene Ideologien sind. Für den Berufspolitiker ist Politik ein Monopol der Repräsentanten des Volkes, die dieses zwar einerseits vertreten, sich als Stellvertreter des Volkes an- sehen, anderseits aber von ihm in ihrer Tätigkeit völlig unabhängig und frei sind. Die Stellvertreter des Volkes sind bei der Ausübung ihres Berufes an keinen Auftrag des Volkes gebunden. Die Ideologie des Parlamentarismus beruht auf der Fiktion der Repräsentation; diese Fiktion ist aber zugleich die Legitimation der Herrschaft der Repräsentanten.

Hans Kelsen hat dies folgendermaßen beschrieben: „Je größer die staatliche Gemeinschaft, desto weniger erweist sich das ,Volk‘ als solches imstande, die wahrhaft schöpferische Tätigkeit der Staatswillensbildung unmittelbar selbst zu entfalten, desto mehr ist es schon aus rein sozialtechnischen Gründen gezwungen, sich darauf zu beschränken, den eigentlichen Apparat der Staats- willensbildung zu kreieren und zu kontrollieren. Anderseits aber wollte man den Schein erwecken, als ob auch im Parlamentarismus die Idee der demokratischen Freiheit, und nur diese Idee, ungebrochen zum Ausdruck käme. Diesem Zwecke dient die Fiktion der Repräsentation, der Gedanke, daß das Parlament nur Stellvertreter des Volkes sei.“

Revolution der Parlamentarier

Unter den Leitideen, die der österreichischen Bundesverfassung vom

1. Oktober 1920 ihr spezifisches Profil gaben, waren Demokratismus und Parlamentarismus die unumstrittensten. Die Revolution 1918 war eine Revolution von Parlamentariern. (Österreichs Revolutionen im 20. Jahrhundert wurden bisher ausschließlich von Politikern getragen.) Dem Manifest des Kaisers vom 16. Oktober 1918 gemäß waren die deutschen Abgeordneten der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder am 21. Oktober 1918 zu einer Vollversammlung zusammengetreten, hatten sich als „provisorische Nationalversammlung für Deutsch-Österreich“ konstituiert und am 30. Oktober 1918 durch Inanspruchnahme der obersten Staatsgewalt die Monarchie liquidiert. In dieser Zeit waren Parlamentarismus und Demokratismus die integrierenden Ideen der Politik. Die Fiktion der Repräsentation hat dabei den Parlamentabsolutismus vom Standpunkt der Volkssouveränität her legitimiert.

In den Gesetzen vom 12. November 1918, 14. März 1919, 21. Oktober 1919 und 1. Oktober 1920 hat das Parlament einstimmig die demokratische Republik beschlossen. Adolf Merki hat in verschiedenen Schriften auf die Worte hingewiesen, die Ignaz Seipel in den Verhandlungen der konstituierenden Nationalversammlung (Stenographisches Protokoll, Seite 3375) am 29. September 1920 sprach: „Wir haben einhellig festgestellt, daß unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muß.“ Merki fällte 1935 folgendes Urteil über diese Epoche: „Die Demokratie, die 1918 errichtet und 1920 in aller Feierlichkeit und im besten Glauben wohl fast aller Beteiligten in der Verfassungsurkunde verankert wurde, war ein papierenes Bollwerk. Die Todesursache dieser Verfassungsdemokratie war letztlich die, daß es eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten war.

Heute weiß man, die Demokratie war den großen politischen Gruppen bloß die rechtliche Plattform, von der aus man die Gefahr einer Diktatur der ändern am besten abwehren zu können glaubte. Merki diagnostizierte die damalige Situation: „So gut wie allen maßgeblichen Politikern lag aber der Parlamentarismus um vieles näher als das demokratische Prinzip. Dieses war gewissermaßen das ideologische Aushängeschild, unter dem auf parlamentarischem Boden der Macht- und Interessenkampf ausgefochten werden konnte. Und so wurde die Demokratie, der selbst ein so skeptischer, dabei aber realistischer Kritiker, wie Aristoteles, eine wohl unverlierbare Zukunft zuschreibt... in die latente Krise des Parlamentarismus hineingezogen und in dieser freiwilligen, aber durchaus nicht unvermeidlichen Schicksalsgemein- schaft dem Untergang geweiht.“

Wachsende Entfremdung

Die Krise der Ersten Republik war dadurch entstanden, daß man die Demokratie mit der Repräsentationstechnik des Parlamentarismus verwechselte. Die latente Krise der Zweiten Republik besteht darin, daß in den herrschenden politischen Kreisen Demokratie mit der Regierungs- und Gesetzgebungstechnik der Koalition verwechselt wird. Jede der beiden Großparteien ist zu schwach, um zu regieren, und gleichzeitig zu stark, um zu opponieren.

Die Koalition trug und trägt Früchte. Nicht nur für die Regierten (wirtschaftlicher Wiederaufbau nach 1945, politische Stabilität, Abschluß des Staatsvertrages, Sozialgesetze, Schulgesetze usw.), sondern auch und mehr noch für die Regierenden: Ein Dyopol der Herrschaft ohne Korrektur und Kontrolle. Durch den Mangel der Polarität von Gesetzgebung und Regierung ist das System der checks and balances durchbrochen. Die durch die Repräsentationstechnik an sich gegebene Entfremdung zwischen Herrschenden und Beherrschten wird vergrößert. Diese Entfremdung wird durch die Verparteilichung der Presse begünstigt. Die Kritik der Politik durch die Presse ist auf ein Minimum re duziert. Wirklichkeit und Wahrheit werden parteilich verfremdet. Die Wahrheit wird von den Politikern nicht ernst genommen. Der Staatsbürger erfährt sie nicht. Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker kann sich infolge mangelnder Information nicht aktualisieren. Die Vernachlässigung der Möglichkeiten, Wahrheit zu publizieren, und damit die Vernachlässigung der Demokratie überhaupt ersieht man auch am Zustand unserer Hochschulen, am Niveau unserer Presse, an unserem Radio- und Fernsehprogramm und am Verhalten von Politikern gegenüber Erkenntnissen unabhängiger Institutionen. Es ist tragisch, daß Österreichs Politikern das Wesen der Demokratie, daß die Erkenntnis der Wahrheit allen auf gegeben ist, fremd ist. Von rationaler Diskussion auf der Basis einer kritisch-relati- vistischen Haltung, die jedem Wert und jeder Wahrheit gleiche Chance und gleiches Risiko gibt, kann keine

Rede sein. Günther Nenning hebt hervor, daß die „Vielzahl und Vielfalt von Meinungen ... den Wettkampf zwischen wahr und nicht wahr“ gewährleistet.

Unsere Politiker glauben aber, absolute Wahrheit und damit absolutes Recht zu besitzen. Sie sind gegenüber Kritiken allergisch, gegenüber Selbstkritik immun. Ihnen sei Hans Kelsen entgegengehalten: „Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet. Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen.“

Teilhabe und Teilnahme

Die Demokratie ist ihrer Grundvorstellung nach die Identität von Herrschern und Beherrschten, Herrschaft des Volkes über das Volk. Die Teilhabe und Teilnahme an der Bildung des Staatswillens wird durch die sogenannten politischen Rechte garantiert. Das wesentlichste davon ist das Wahlrecht. Die politische Freiheit ist aber nicht nur im Stimmrecht konkretisiert. In jeder modernen demokratischen Verfassung besteht ein Nebeneinander von repräsentativen und plebiszi- tären Instiutionen. Volksbegehren (Art. 41 Abs. 2 B-VG.) und Volksabstimmung (Art. 43—46 B-VG.) sind Formen, die Spitzen der Repräsentationstechnik abzuschleifen und das Volk unmittelbar in die Staatswillensbildung einzuschalten, also direkt an der Gesetzgebung zu beteiligen. In ideologischer Hinsicht sind diese Einrichtungen der direkten Demokratie insofern bemerkenswert, als sie einer traditionellen und konservativen Demokratie, der Schweiz, abgeschaut worden sind. Die Bestimmungen unserer Bundesverfassung über Initiative und Referendum gewährleisten allerdings „in einem nur bescheidenen Ausmaße“ (Ädamovich) die unmittelbare Teilnahme des Volkes an politischen Entscheidungen. Adamovich-Spanner sprechen von einer „sehr vorsichtig gehaltenen Annäherung an die Staatsform der unmittelbaren Demokratie“. Initiative und Referent dum hängen nämlich völlig vom Parlament ab; abstrakt-generell dadurch, daß das Verfahren für beide durch Bundesgesetz geregelt wird, konkret dadurch, daß die Volksabstimmung nur durch das Parlament initiiert werden kann und das Volksbegehren zwar von der Bundesregierung dem Nationalrat zur geschäftsordnungsmäßigen Verhandlung vorzulegen ist, im Parlament aber sein Grab finden kann. Der Nationalrat ist nämlich nicht verpflichtet, ein Volksbegehren überhaupt in Verhandlung zu ziehen. Die Parlamentarier haben dadurch dem Volk in der Verfassung eine Art Mißtrauensvotum und dem Parlament einen Vertrauensvorschuß erteilt.

Diktatur der Parteien

Schon 1935 fragte Merki, warum der Einschlag aus dem Ideenkreis der unmittelbaren Demokratie, warum die plebiszitären Einrichtungen, wie Volksbegehren und Volksabstimmung, so stiefmütterlich bedacht wurden, daß diese Gegengewichte und Korrekturen des Parlamentsabsolutismus nicht wirksam werden konnten? Er beantwortete diese Frage selbst: „Die Parteiherrschaft sollte in keiner Weise geschmälert oder gar gefährdet werden; um jeden Preis sollte vermieden werden, daß der einfache Staatsbürger, der überhaupt nur als Wähler in Frage kam, anders denke und anders wähle, als es die Parteiinstanzen vorzuschreiben für gut fanden. Die Demokratie wurde durch den Parlamentarismus, der Parlamentarismus wiederum durch seine Überspitzung als Parteiherrschaft in Frage gestellt und entwurzelt. Diese Absicht ist gewissermaßen dokumentarisch durch das Wahlsystem erwiesen, das durch die Ausschaltung des Wählerwillens auf eine Diktatur der Parteien hinauslief.“

Zu hoffen ist, daß die Parlamentarier, insbesondere die staatstragenden Koalitionsparteien, dies bei der geschäftsordnungsmäßigen Behandlung de Volksbegehrens beherzigen.

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