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Die heutige Inflation ist eine politische Frage

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Wenn einer der Großen im Reich des Geistes plötzlich aus unserer Mitte gerissen wird, kann man in Zeilen des Gedenkens ein Zweifaches tun. Man kann den Lebensweg des Verstorbenen nachzeichnen und einen Überblick über sein geistiges Erbe bieten. Man kann aber auch das zusammenfassen, worin er seine Botschaft an die Gesellschaft erblickte, deren Zukunft er zutiefst durch den Pluralismus der Interessenmächte bedroht sah. Goetz Briefs hätte sicher das Gedenken an seine Sorge um die verfehlte Weichenstellung in der Entwicklung der freiheitlichen Demokratie und um das Schicksal der wachsenden Arbeitnehmermassen vorgezogen.

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Wenn einer der Großen im Reich des Geistes plötzlich aus unserer Mitte gerissen wird, kann man in Zeilen des Gedenkens ein Zweifaches tun. Man kann den Lebensweg des Verstorbenen nachzeichnen und einen Überblick über sein geistiges Erbe bieten. Man kann aber auch das zusammenfassen, worin er seine Botschaft an die Gesellschaft erblickte, deren Zukunft er zutiefst durch den Pluralismus der Interessenmächte bedroht sah. Goetz Briefs hätte sicher das Gedenken an seine Sorge um die verfehlte Weichenstellung in der Entwicklung der freiheitlichen Demokratie und um das Schicksal der wachsenden Arbeitnehmermassen vorgezogen.

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Bis zum letzten Tag beschäftigte sich Goetz Briefs mit den Gedanken des von ihm herausgegebenen Bandes „Laissez-faire-Pluralismus“, erschienen 1966. So oft man wieder darin liest, ist man überrascht, mit welch scharfem Blick Briefs in seinem eigenen Beitrag „Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände“ die Punkte im Funktionsgefüge des politischen und sozialen Systems der heutigen freiheitlichen Gesellschaft hervorhebt, die ihr zum Verhängnis werden können. Überraschend auch, wenn man bei ihm liest, woher das Kettende zu kommen vermag: Die unerläßliche neue Einsicht in die „Wahrheit der Dinge von Staat, Ge-

Seilschaft und Mensch hat eine erhöhte Chance im Wechsel des Vitalgefühls der jungen Generation. Anders als ihre Väter und Großväter ist sie skeptisch geworden gegenüber allem Institutionalismus und gegen die Administrierung ihrer Existenz“.

Briefs' Studie ist eine der allerwich-tigsten unter den vielen, die sich mit der Situation und der Zukunft der freiheitlichen Gesellschaft im letzten Jahrzehnt befaßten. Sie ist ausgezeichnet durch eine Diagnostik der verbandspluralistischen Demokratie, der alle Mittel der dafür in Frage kommenden Sozialwissenschaften zur Verfügung stehen, dazu durch eine erstaunliche Kenntnis der Spe-zialliteratur, nicht zuletzt durch ein Engagement, das einem Manne auf der Höhe seines Lebens höchste Achtung eintragen müßte, das aber um so höher zu schätzen ist bei einem Manne, der nach einem langen Leben des Bemühens um die Ordnungsproblematik der freiheitlichen Gesellschaft die schwere Bedrohung für sie an dem Punkt festzustellen sich genötigt sieht, wo er einst einen der ersten Ordnungsfaktoren der vom Liberalismus geprägten Gesellschaft sehen zu können glaubte: den Gewerkschaften.

Der von Briefs geprägte Ausdruck „Laissez-faire-Pluralismus“ trifft genau die für die verhängnisvolle Fehlentwicklung der freiheitlichen Gesellschaft ausschlaggebenden ideologischen Positionen. Die früher vom Liberalismus dem Individuum zu-

gebilligte individualistische Freiheit beanspruchen die Verbände für sich, glauben sich der ökonomischen Gesetzlichkeiten überhoben und sich Macht über den Wirtschaftsprozeß selbst zubilligen zu können. Durch die Berufung auf die ihnen verfügbaren starken Wählerkontingente nötigen sie dem Staate eine Wirtschaftspolitik in ihrem Interesse auf. Die Folgen solcher Interessenpolitik der Verbände für die Volkswirtschaft zu neutralisieren, wird zu einer der wichtigsten Aufgaben des Wohl-fahrts- und Sozialstaates. Das sprechendste Beispiel dafür ist die dem Staate aufgenötigte Vollbeschäftigungspolitik, während in einer den

ökonomischen Gesetzlichkeiten unterworfenen Volkswirtschaft die überhöhten Löhne Arbeitslosigkeit verursachen müßten mit der Folge der Wiederherstellung des Gleichgewichts im Kostenfeld. Die Gewerkschaften haben, wie Briefs bemerkt, nicht nur die privilegierte Stellung eines kraft seines Wahlstimmenpaketes zur Ausübung eines Druckes auf die Regierung befähigten Verbandes, sie haben außerdem die Streikwaffe zur Verfügung, um ihrer Interessen- und Einkommenspolitik Geltung zu verschaffen.

Der Laissez-faire-Pluralismus bedroht, wie Briefs ausführt, die freiheitliche Demokratie an der Wurzel, weil die Gefahr besteht, „daß das Zeitalter der Vernunft in seine Negation umschlägt“. Aus der Demokratie sei eine säkularisierte Weltanschauung geworden, in der für alles und jedes im öffentlichen Leben die letztentscheidende Instanz gesehen wird: dies sei die Pervertierung der Demokratie zum Demokratismus. Damit ging „der Verlust der metaphysischen und moralischen Fundierung der Demokratie“ einher, der Demokratismus „erhebt den unfundierten, daher um so arroganteren Anspruch, Ersatz für die religiös-sittliche Fundierung der Gesellschaft zu sein“. Mit der Preisgabe der Würde einer grundsätzlichen Ordnungsform des politischen Lebens wird der Staat in der Demokratie verfügbar in der Hand der Interessenverbände. Im Namen der Wohl-

fahrt wird er mit Funktionen beladen, die zu einer Machtfülle hinsichtlich der Bereiche der menschlichen Existenz führen, die die „freiheitliche“ Gesellschaft in die Nähe der totalitären Systeme treiben muß.

Was sind die Chancen der Uberwindung des in der verbandsplurali-stischen Demokratie herrschenden Laissez-faire? Goetz Briefs setzt, wie schon erwähnt, Hoffnungen auf die Jugend und ihre kritische Haltung gegenüber allem, was ihren Existenzraum einzuschränken bestrebt ist. Mögen Teile der Jugend auf falsche Emanzipationspropheten hören, im ganzen wird die Jugend offen sein für die „Wahrheit der Dinge“, für die Unerbittlichkeit des Unterschiedes von Scheinwerten und Realwerten.

Eine weitere Funktion von entscheidender Bedeutung für das Alltagsinteresse gegenüber den Sonder-dnteressen der Verbände mißt Goetz Briefs dem Verbraucher zu. Die in der freien Gesellschaft gewährleistete Freiheit in der Interessenpolitik der Verbände, die Verbandsautonomie, sagt Goetz Briefs, hat ihr entscheidendes Gegenüber im Verbraucher. „Das Volk ist, wirtschaftlich gesehen, primär eine Einheit von Verbrauchern, also der Nachfrage.“

Er folgert daraus: „Darum liegt hier die zentrale Verantwortung des Staates. Sie ist um so unbestreitbarer, als der Verbraucher wirtschaftlich, sozial und politisch unvertreten ist; bei ihm liegt die leere Stelle im pluralistischen Grundriß der Gesellschaft.“

Im Dienste des dem Verbraucherinteresse verpflichteten Gemeinwohls hätte der Staat drei Ziele zu verfolgen. Erstens müßte er strengstens seiner primären Verantwortung entsprechen, Gerechtigkeit für alle zu gewährleisten. Daher müßte er jeder Interessenpolitik dort die Grenze setzen, wo das Gemeinwohl bei sonst geordneten politischen Verhältnissen am empfindlichsten für die große Mehrheit des Volkes verletzt wird: dort, wo inflationistische Auswirkungen solcher Interessenpolitik entstehen. Der Staat, der Gesetzgeber, wird dieser umsozialsten Auswirkung des Laissez-faire-Pluralismus nicht Herr zu werden vermögen ohne kräftigen Rückhalt in der öffentlichen Meinung. Tatsächlich besteht in dieser Hinsicht Anlaß zu Hoffnung. Die Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung, in unserer Frage der Verbraucher, dürfte sich in steigendem Maße melden und den Staat zu geeigneten Maßnahmen gegenüber der Preissteigerung und zur Erhaltung der Geldwertgerechtigkeit veranlassen.

Eine zweite Aufgabe des Staates in der Wahrnehmung der Gemeinwohlinteressen gegenüber der Interessenpolitik der Verbände ist die

Sorge für die Öffentlichkeit aller Aktionen, die das Allgemeininteresse, das Gemeinwohl, berühren. Das betrifft im Laissez-faire-Pluralismus Bemühungen, Einrichtungen, Geld-und Machteinsatz der Verbände zum Zweck der Beeinflussung des Gesetzgebers, der Regierung und der Verwaltung. Zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der Demokratie sollte die Publizitätspflicht für alle Bestrebungen der Interessenvertreter zu solcher Einflußnahme gesetzlich geregelt werden. In der BRD, wo nicht weniger als 500 Interessenvertreter der Verbände („Lobby“) tätig sind, wurden solche Maßnahmen von den Koalitionsparteien gemeinsam (1968) in Aussicht genommen.

Den entscheidenden Punkt im Schaltwerk des dem Laissez-faire-Pluralismus anheimgegebenen demokratischen Prozesses der freiheitlichen Gesellschaft wird man an der Stelle suchen müssen, auf die der Ausdruck Laissez-faire hinweist: in der Fehlform der Freiheitsdynamik. Es ist die dritte Aufgabe in der Neuordnung des demokratischen Prozesses. In der freiheitlichen Demokratie ist die Freiheit institutionalisiert, nicht institutionalisiert ist dagegen die Verantwortung für das Ge-

meinwohl. Vertreter des Staats- und Verfassungsrechtes sehen den Weg in einem die Freiheiten und Verantwortlichkeiten der Verbände regelnden Verbandsgesetz. Andere denken an ein Gremium, in dem die Verbändevertreter unter institutionell gesicherter Wahrung des Gemeinwohlimperativs zu einverständlichen preis- und lohnpolitischen Entscheidungen zu kommen gehalten sind.

Wie immer man sich den Weg aus dem Laissez-faire der Interessenpolitik der Verbände, die Zukunft der Gemeinwohlwahrung und mit dieser die Erhaltung des Grundbestandes der freiheitlichen Demokratie vorstellen mag, sicher ist, daß, wie Briefs sagt, „es sich primär um eine politische Entscheidung handelt“ mit dem Ziele „der Aufhebung der Verfilzung von demokratischem Staat und pluralistischer Gesellschaft zu dem Zweck, einerseits die Hoheit des Staates in der Wahrung des Gemeinwohls klarzustellen, anderseits den pluralistischen Verbänden nach aller Möglichkeit die Chance zu geben, ihren Ausgleich im gesellschaftlichen Raum zu finden. Damit würde der Kreis der Verantwortung, der beim Staat liegt und von ihm zu wahren ist, deutlich von dem abgehoben, der den Verbänden gehört. Dem Staat würde ein Aufsichtsrecht verbleiben müssen, wenn Machtübergewicht von Verbänden zur Gefahr für das Gemeinwohl wird. Wenn Staat und Verbände in dieser Weise wieder je ihre Kontur gewinnen, verschwindet

die Ortslosigkeit und Anonymität der Verantwortung, die heute alle westlichen Nationen plagt“.

In einem wenige Monate vor seinem Tod erschienenen Artikel konnte Briefs mit großer Genugtuung feststellen, daß einer der allerersten englischen Ökonomen, Aubrey Jones, nach langjährigen Erfahrungen als Vorsitzender der Preis- und Ein-kommenskommission in seinem Buch über „Die neue Inflation“ zu den gleichen Gedanken gelangt war, die er selbst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertreten hatte. Diese sind: erstens, daß die heutige Inflation eine politische, keineswegs nur eine wirtschaftliche Frage ist, weshalb die Weltwährungskonferenzen keine Lösung finden können; daß daher, zweitens, der Staat wieder voll seine Verantwortung für die Geldwertbeständigkeit übernehmen und sich daher in die Preis- und Einkommenspolitik der Verbände einschalten muß; drittens und vor allem, daß die Verantwortung der Verbände gegenüber dem Gemeinwohl institutionalisiert werde in der Weise, daß die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sich über ihre Einkommensforderungen zu einigen genötigt sehen auf Grund

sachlicher Erwägungen nach Pro-duktivitäts- und Gemeinwohlgesichtspunkten, was der Arbeitgeberseite nicht mehr ermöglichen würde, auf höhere Preise auszuweichen. Das wäre die Institutionalisierung der Sachvernunft oder nach Briefs die Wiederanerkennung „der Wahrheit der Dinge von Staat, Gesellschaft und Mensch in Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters“. Zum Unterschied von Jones würde er allerdings die soziale Marktwirtschaft als unverzichtbar im Interesse des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts ansehen.

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