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Welt des Staates

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Die weitgreifenden Aenderungen, die Wirtschaft und Gesellschaft erfaßt haben, konnten den Staat nicht unberührt lassen. Neue Aufgaben, aber auch neue Gefahren stehen vor ihm. Der Staat soll sich inmitten dieser Umwälzungen um viele Dinge annehmen, aber er soll den Freiheitsraum seiner Bürger nicht beschneiden. Das sind aber nahezu gegensätzliche Forderungen. Hier seien folgende vier Gedanken wegweisend.

Erstens, Wohlfahrtsstaat, aber nicht Versorgungsstaat. Der bloße Rechtsstaat genügt heute nicht mehr. Der Staat muß sich auch um die sozialen Nöte seiner Bürger annehmen. Der Staat hat in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt die Ersparnisse seiner Bürger abgewertet und damit die Lebensunsicherheit erhöht. So ergibt sich für ihn schon aus diesem Grunde die Pflicht, für soziale Sicherheit zu sorgen, einen Wohlfahrtsstaat zu schaffen. Aber d o c h k einen Versorgungsstaat. Die Grenzlinie ist sehr fein und dennoch sehr deutlich. Der Wohlfahrtsstaat gibt Hilfe, soweit dadurch Selbsthilfe angeregt wird. Der Versorgungsstaat hilft wahllos, wo irgendeine Unzufriedenheit auftaucht. Er macht die Einschränkung nicht, daß jede Hilfe die Selbsthilfe anregen soll. Dadurch aber belastet er alle seine Bürger steuerlich so schwer und schränkt die Freiheit so ein, daß sich niemand mehr wohlfühlen kann. Eigentätigkeit, Eigenleistung, Eigenverantwortung des Bürgers werden auf Sparrationen gesetzt. So wird dem Menschen eine sehr notwendige Freude geraubt, nämlich die Leistungsfreude. Ist aber die Leistungsfreude weggenommen, dann wird das Leben leer, unerfüllt, oft sinnlos. Ein ungemessenes -Ver-gnügungsverlangen ist die Folge.

Der Wohlfahrtsstaat dagegen gibt Hilfe, um Selbsthilfe anzuregen, Eigentätigkeit anzuspornen. So gibt er viel lieber Familienhilfe und Gemeinschaftshilfe als Einzelhilfe. Die Kinderunterstützung ist eine solche Familicnhilfe. Eine familiengerechte Steuergesetzgebung wäre ebenfalls Gemeinschaftshilfe. Und so noch vieles.

Zweitens, nicht Allzuständigkeit des Staates, sondern subsidiäre Zuständigkeit. Vor dem ersten Weltkrieg machte das Steuererträgnis der europäischen Staaten ungefähr 10 Prozent des Volkseinkommens aus; heute liegt es etwa bei 40 Prozent des Volkseinkommens. Bei allen Betrieben ist also der Staat der stille Teilnehmer, und zwar in einem viel höheren Ausmaß als die meisten wissen. Dadurch wird das Gesamtvolk immer mehr vom Staat abhängig, bei Verleihung von Stellen, Subventionen usw. So ist das Wort von der Allzuständigkeit des Staates aufgekommen. In dieser Entwicklung liegen so schwere Gefahren, daß die sittliche Norm wieder klar ausgesprochen werden muß: Der Staat hat nicht Allzuständigkeit, sondern subsidiäre Zuständigkeit. Subsidiäre Zuständigkeit bedeutet helfende Zuständigkeit. Zunächst also soll er der je kleineren Gemeinschaft die Selbsthilfe belassen. Erst wenn diese nicht ausreicht, soll er mit seiner Hilfe einspringen.

Hierbei ist im besonderen zu beachten: Ein Staat besteht nicht einfach aus einzelnen, sondern aus Gemeinschaften: Es gibt Lebensgemeinschaften, wie die Familie; es gibt Leistungsgemeinschaften, wie Betriebe, Fabriken usw.; es gibt Regionalgemeinschaften, wie Gemeinden, Bezirke, Länder. Der Staat soll die Eigentätigkeit all dieser Gemeinschaften anregen und, soweit notwendig, durch sie helfen. Der moderne Staat hat oft das Gegenteil getan: Er hat die Gemeinschaften übergangen, dem einzelnen geholfen und so die Gemeinschaft aufgehoben. Das aber ist falsch. Denn dies hat die V e r s t a a tlichung des Lebenszur Folge. Und das ist die schlimmste aller Verstaatlichungen.

Wo aber ein Volksnotstand herrscht, dem die kleineren Gemeinschaften nicht gewachsen sind, da ist der Staat zur Hilfe berufen. Dies ist in Oesterreich hinsichtlich der Wohnungsnot der Fall. Hier wäre in dem Ausmaß und mit der Schnelligkeit zu helfen, mit denen Notstandshilfen auch sonst durchgeführt werden. Man schenke hier denen Glauben, die die Auswirkung dieses Notstandes auf den Volkskörper unmittelbar beobachten können.

Drittens, nicht konfessioneller Staat, nicht neutraler Staat, sondern echter Kulturstaat. Im Mittelalter gab es konfessionelle Staaten. Diese Zeit ist vorbei. Dann haben sich zuerst weltanschaulich und später auch kulturell neutrale Staaten gebildet. Das hat zur Folge, daß unsere Staaten wohl ein Bildungssyst e'm, aber kein Wertsystem haben. Damit aber zerstören sie sich selbst und das Volk, das in ihren Grenzen wohnt.

Es geht also darum, daß die Staaten aus der bloß äußeren 1 Zivilisationsförderung herausfinden, die grundlegenden menschlichen, sittlichen und religiösen Werte anerkennen und so zu echten Kulturstaaten werden, die eben nicht bestehen können, ohne diese Werte zu fördern.

Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß in den Gesetzen jedes Volkes noch ein Grundstock an allgemein anerkannten Werten zu finden ist.

An sie wird anzuknüpfen sein, um an die Stelle von Auflösung und Zerfall wieder den Aufbau zu setzen.

Viertens, es geht um die Wiedererweckung echter. Gemeinsinns als Grundlage der staatsbürgerlichen Gesinnung. Dies gilt für die Großen und für die Kleinen. Die Parteien werden also vor allen Dingen beachten müssen, daß die Abgeordneten Abgeordnete des Volkes, nicht der Parteien sind. Der Nationalrat ist die gesetzgebende Körperschaft. Die Gesetze binden das ganze Volk. Gesetze dürfen daher nicht nach dem Parteiwohl, sie müssen nach dem Volkswohl ausgerichtet werden. Mögen alle Nationalräte hieran denken, auch dann, wenn es sich um die Beratung solcher Gesetze handelt, die nicht dem Parteiwohl, sondern dem Volkswohl nützen.

Der schlichte Bürger aber möge beachten, daß es dem Wohlfahrtsstaat gegenüber neue Pflichten gibt. Man darf seine Sozialgesetze wohl benützen, aber nicht ausnützen. Internationale Statistiken geben zum Beispiel an, daß mehr als 25 Prozent der Arbeitslosenunterstützung unter Scheingründen bezogen werden. Das ist aber Betrug an Staat und Volk. Es widerspricht eindeutig dem 7. Gebot Gottes. Staatsbürgerliche Gesinnung ist jene Tugend, die sich Volk und Staat gegenüber zu ehrenhaftem Handeln verpflichtet weiß und also den Einzel- oder Standesegoismus zurückstellt, um das Gesamtwohl zu fördern.

Schluß

Liebe Gläubige! Im vorstehenden haben wir euch einige Grundsätze für die Bereitung eines gesunden öffentlichen Lebens dargelegt. Sie sind nichts anderes als die Anwendung der Botschaft Christi und seiner goldenen Regel auf die Verhältnisse der heutigen Zeit. So nehmt denn die Worte der Kirche an und verwirklicht sie in eurem Leben. Dann wird das christliche Ethos wieder die führende Geistesmacht Europas werden. Dann werden die Güter des Friedens, die wir so lange vermißten, wieder unser Anteil werden. Dann können wir den kommenden Weltenrichter getrosten Herzens erwarten, weil wir das, worüber wir gesetzt wurden, getreu nach Seinem Auftrag verwaltet haben. Dann können wir einst die Stimme des Herrn vernehmen: „Weil du über weniges getreu warst, will ich dich über vieles setzen, gehe ein in die Freude deines Herrn“ (Mt. 25, 21). Wien, am 16. Oktober 1956 Die Erzbischöfe und Bischöfe Oesterreichs

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