6794093-1971_02_06.jpg
Digital In Arbeit

Eidgenössischer Reformeifer

19451960198020002020

Zwei sehr unterschiedliche Ereignisse der letzten Wochen beleuchteten die innenpolitische Szene einer Schweiz, deren politische Strukturen stabil und zugleich reformbedürftig sind.

19451960198020002020

Zwei sehr unterschiedliche Ereignisse der letzten Wochen beleuchteten die innenpolitische Szene einer Schweiz, deren politische Strukturen stabil und zugleich reformbedürftig sind.

Werbung
Werbung
Werbung

Nach der Fertigstellung von fast einem Drittel der Autobahnen erwies sich die Notwendigkeit einer interkantonalen Polizei, deren Befugnisse nicht dort enden, wo die Autobahn ohnehin weiterführt. Das Begehren fiel ins Wasser. Selbst der Hauptinteressent, die Waadt, war nicht bereit, die personellen und finanziellen Voraussetzungen schaffen zu helfen.

Das andere war der Versuch der freisinnigen Partei, in Zürich zum erstenmal eine Frau in den Stadtrat zu bringen. Das aktive Wahlrecht ist dort seit längerem unbestritten, nun sollte die Probe aufs Exempel mit dem passiven gemacht werden. Die Chancen für die Kandidatin waren hervorragend, ihr Image und ihre Qualifikation in gleicher Weise gut. Mit knapper Mehrheit siegte jedoch der einzige ernsthafte männliche Konkurrent. Eine Frau an der Spitze des Finanzdepartements in der heimlichen Hauptstadt der Schweiz — das wäre ein klarer Vorentscheid für den 6. Februar 1971 gewesen. An diesem Tag müssen die Schweizer — Männer! — darüber abstimmen, ob in Zukunft ihre Frauen auch auf Bundesebene stimmberechtigt sein sollen. Da fast alle Parteien inzwischen die Ja-Parole ausgegeben haben, ist damit zu rechnen, daß bei den nächsten Parlamentswahlen im kommenden Herbst Frauen in den Nationalrat einziehen.

Damit würde eine stille Revolution ohne Verfassungsänderung vollzogen sein, deren Erfolg vor allem dem Vorpreschen der welschen Kantone zu verdanken ist, die ihrerseits stark von dem französischen Nachbarn, dessen Zeitungen von Genf bis Neuchätel oft stärker als die einheimischen gelesen werden, beeinflußt sind. Das leidige Juraproblem, in erster Linie eine Folge sprachlicher und ethnischer Anlehnung an den großen französischen Nachbarn, würde sich damit von allein erledigen, wenn dem „großen Bruder”, dem Deutschschweizer und speziell dem Bemerdeutschen, keine Verletzung der Menschenrechte mehr vorgeworfen werden können. Die bisherige Verweigerung der Gleichberechtigung für die Frauen kam, theoretisch gesehen, leider darauf hinaus und stand vor allem einer Aufnahme der Schweiz in die UNO entgegen.

Trotz dieser neuen Horizonte gibt sich die Schweiz aber gegenwärtig große Mühe, auch die Bundesverfassung, die seit 1848 ziemlich unverändert in Kraft ist, den Erfordernis sen der Zeit anzupassen. Hier ist gewiß keine rasche oder gar übereilte Entscheidung zu erwarten. Immerhin hat die Diskussion um die bestehende Verfassung genau 18 Jahre, von 1830 bis 1848, dem Jahr ihrer Verabschiedung, gedauert. Die Grundsäulen helvetischer Politik — direkte Demokratie, Föderalismus, Neutralität, Rechtsstaat usw. — sind damals solide gebaut worden und haben sich fast eineinhalb Jahrhunderte bewährt. Jedoch die jüngere Generation beteiligte sich kaum noch an der Möglichkeit, durch häufige Stimmabgabe die Entscheidungen in Gemeinde, Kanton und Bund mit zu steuern. Ihr Vorwurf, daß der Automatismus der Parteien und das politische Managertum diese stärkste Säule der Schweiz, die direkte Demokratie, wankend gemacht habe, ist sicher nicht unberechtigt.

Zwei Gruppen beteiligen sich in erster Linie an der Diskussion, wie die Schweiz von morgen aussehen soll. Die eine wird von dem früheren Bundesrat (Minister) Wahlen geleitet, die andere hat sich kürzlich mit der Schrift „Helvetische Alternativen” zu Wort gemeldet. Vorsichtige Schritte, ohne die gegenwärtigen Strukturen grundsätzlich in Frage zu stellen, dort — stürmische Bereitschaft, nicht nur zu renovieren, sondern zu reformieren, hier. Die Diskussion ist in vollem Gang — nicht mehr über das „Daß”, sondern über das „Wie” wird nun gesprochen werden müssen. Sicher ist, daß der Wandel des Selbstbewußtseins der Schweizer hier bereits eine wichtige Vorentscheidung getroffen hat: nach seinem Paß ist und bleibt er zeitlebens zunächst Bürger seiner Geburtsgemeinde, die auch im sozialen Bereich für ihn bis zu seinem Tod verantwortlich bleibt — in seinem Empfinden und vor allem in der Konfrontierung mit anderen Nationen ist er in erster Linie Schweizer. Dafür sorgen nicht zuletzt die starken Schweizer Kolonien im Ausland.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung