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Digital In Arbeit

„Entwöhnungskur

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Das Auswechseln einiger Türschilder in der SPÖ-Zentrale macht noch keine andere Partei. Ob die klassische Arbeiterpartei ihre Identität in Franz Vranitzky findet?

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Das Auswechseln einiger Türschilder in der SPÖ-Zentrale macht noch keine andere Partei. Ob die klassische Arbeiterpartei ihre Identität in Franz Vranitzky findet?

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Das heutige Hauptproblem der SPÖ-Organisation ist der tendenzielle Zerfall sowohl der traditionellen Arbeiterschaft wie — in der Folge — des durch sie geprägten Milieus. Diese Entwicklung hat mehrere Aspekte.

Dominierend ist sicherlich ein grundsätzlicher Perspektiven-und Wertewandel der Arbeiterschaft. An die Stelle kollektiver Aufstiegserwartungen tritt eine individualistische Perspektive

unterschiedlicher Ausrichtungen. Andere wiederum, die den Aufstieg nicht geschafft oder die Hoffnung auf ihn nicht entwickelt haben, empfinden ihre Lage als ausgegrenzt und perspektivenlos.

Diese breite Differenzierung wird einerseits durch höchst unterschiedliche Beruf swirklichkei-ten — vom klassischen Großbetrieb bis zum völlig vereinzelten Service-Techniker —, durch unterschiedliche Qualifikationsmerkmale und nicht zuletzt durch eine tatsächlich — durch das politische Wirken der SPÖ - durchlässiger gewordene Gesellschaft verursacht.

Diese berufliche, aber auch örtliche Mobilität, die Inanspruchnahme reicher Freizeitmöglichkeiten — organisationstechnisch nicht zuletzt im Fall der Zweitwohnsitze bedeutsam —, brach auch das Arbeiter-Wohnmilieu weitgehend auf und damit eine — neben den Betrieben — bedeutsame Sozialisationsinstanz. Selbst der „alte“ Wiener Gemeindebau ist nicht mehr eine naturgegebene Domäne der SPÖ.

Dazu kam aber ein Wandel der Träger der SPÖ. Nicht nur dort, wo das klassische SPÖ-Organisa-tionsmodell einer fremden gesellschaftlichen Realität übergestülpt wurde, sondern auch in den

klassischen SPÖ-Hochburgen kam es zu einer Dominanz der .Arbeiter der zweiten Generation“ in der SPÖ-Organisation. Also jener Töchter- und Söhne-Generation, die zwar in das proletarische Milieu über ihre Eltern noch eingebunden ist, selbst aber — teils von vornherein durch entsprechende Ausbildung und Berufswahl, teils durch spätere individuelle, oft auch politisch „gemachte“ Entwicklungen - schrittweise zu Angehörigen der „neuen Mittelschichten“ wurden.

Das ging Hand in Hand mit der Entwicklung einer Medien- und Kommunikationsgesellschaft, die nicht nur die klassischen Informationsträger bedeutungslos macht, sondern auch die traditionellen Barrieren gegen „fremde“ Informationen!

Zwei — letztlich in eine ähnliche Richtung Einfluß ausübende — Tendenzen können hier nur am Rande erwähnt Vierden. Das ist zunächst eine „Entwöhnung“, die nicht leicht wieder aufzuholen ist: Auch Reformen der SPÖ-Organi-sationen können nicht'so schnell wettmachen, daß fast eine ganze

Generation verlernt hat, die SPÖ-Organisation als Ort der Verwirklichung von Bedürfnissen — seien es auch Freizeitbedürfnisse — oder der Artikulation ihrer Interessen - zu sehen. Anderes ist da allemal attraktiver, im Freizeitangebot sowieso, aber auch bei der politischen Interessenartikulation, weü der Leserbrief, das „Beschweren“ bei einem Spitzenfunktionär oder auch eine Unterschriftenaktion oft mehr Wirkung zeigt, als die Befassung einer SPÖ-Organisation mit einem Problem.

Und zum zweiten die Tatsache, daß auch die SPÖ von Erscheinungen betroffen ist, die sie und ihre Träger der Verdächtigung aussetzt, letztlich nicht allgemei-

ne Interessen—und damit die persönlichen Interessen des Bürgers —, sondern taktische Eigeninter-essen als Machtapparat und persönliche Eigeninteressen ihrer Funktionäre - Stichwort: Privilegien - zu verfolgen.

Das alles fließt zusammen in einem wachsenden Widerstand gegen das, was in der SPÖ-Organi-sationssprache „Erfassen“ heißt. Das Lebensgefühl einer selbstbewußter gewordenen Bevölkerung, der Rückzug vieler ins Privatleben, der übersehene Zusammenhang zwischen persönlichem Schicksal und politischer Entscheidung, das Mißtrauen gegen .^Apparate“ und Parteien—das alles trägt dazu bei, die SPÖ als Or-

ganisation - nicht als Wahlpartei - aus dem Bewußtsein auch jener Menschen zu verdrängen, die traditionellerweise ihre Träger waren.

Was hier aus der technischen Sicht der Organisation beschrieben wurde, hat natürlich eine eminent politische Dimension. Denn die Fragmentierung der Gesellschaft, das praktische Wegfallen des soliden, für die SPÖ eine sichere Grundlage darstellenden Blockes der Arbeiterschaft stellt auch die oft beschworene, aber in Wirklichkeit selten strapazierte „Integrationsfähigkeit“ der SPÖ auf eine schwere Probe.

Die vielleicht nicht „antagonistischen“, aber jedenfalls als tiefgreifend empfundenen Interessengegensätze in der Bevölkerung wachsen. Seien es Gegensätze ökonomischer Interessen — wie etwa der nie aufgearbeiteten Konflikte zwischen Beschäftigten der Privatwirtschaft und der verstaatlichten Industrie, zwischen öffentlich Bediensteten und anderswo Beschäftigten, zwischen Regionen und Bundesländern Österreichs; seien es aber auch Differenzen der gesellschaftlichen Perspektive—etwa zwischen jenen, die die industrielle Entwicklung linear fortschreiben wollen und jenen, die ein sensibles Umweltbewußtsein entwickelt haben.

Interessen- und Perspektivenkonflikte im „eigenen Bereich“ wurden und werden jedoch nicht öffentlich gemacht - zumindest nicht von der SPÖ -, sondern nach Möglichkeit verdeckt. Das funktioniert für den jeweils weniger radikalen Teil der Vertreter eines divergierenden Standpunktes, führt aber zur Entfremdung der Kerngruppen des jeweiligen Standpunktes.

Herbert Tieber ist Leiter der Grundsatzabteilung für Politik und Wirtschaft am Renner-Institut der SPO: Albrecht K. Konecny ist Chefredakteur der „Zukunft“. Der Beitrag, zitiert auszugsweise eine Analyse im neuen „österreichischen Jahrbuch für Politik '87“ zur Reformdiskussion in der SPO.

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