6848882-1976_37_04.jpg
Digital In Arbeit

Gefährliches Ritual

19451960198020002020

Auch bei der Lohnrunde in diesem Herbst wird das traditionelle Ritual zelebriert werden: Die Gewerkschaften lizitieren hoch, die Unternehmerorganisationen prophezeien mit Grabesstimme den Ruin der Wirtschaft und erklären sich außerstande, mehr als die Abgeltung der Inflation zu bieten. ÖGB-Präsident Benya gibt sich kompromißbereit und möchte die Forderungen mit zwei Prozent Reallohnerhöhung limitieren — nach drei Prozent in den letzten Jahren —, was erfahrungsgemäß bedeutet, daß jede Einzelgewerkschaft bemüht ist, mit ihrem Abschluß ein wenig über der Präsidentendirektive zu liegen.

19451960198020002020

Auch bei der Lohnrunde in diesem Herbst wird das traditionelle Ritual zelebriert werden: Die Gewerkschaften lizitieren hoch, die Unternehmerorganisationen prophezeien mit Grabesstimme den Ruin der Wirtschaft und erklären sich außerstande, mehr als die Abgeltung der Inflation zu bieten. ÖGB-Präsident Benya gibt sich kompromißbereit und möchte die Forderungen mit zwei Prozent Reallohnerhöhung limitieren — nach drei Prozent in den letzten Jahren —, was erfahrungsgemäß bedeutet, daß jede Einzelgewerkschaft bemüht ist, mit ihrem Abschluß ein wenig über der Präsidentendirektive zu liegen.

Werbung
Werbung
Werbung

Es wird wieder zu Verhandlungen mit verbalen Kraftakten und Streikdrohungen kommen und schließlich wird man sich auf die Gewerkschaftsforderungen mit minimalen Abstrichen einigen — gerade soviel, um auch den Unterhändlern der Gegenseite einen Verhandlungserfolg zu gönnen. Die Harmonie wird wieder hergestellt sein, die Streitparteien werden einander attestieren, daß die Vernunft gesiegt habe.

Diese Taktik — jahrzehntelang praktiziert — führt zu einem „cre-dibility gap“ der Unternehmerseite und zum a'llgemeinen Eindruck des perfekten ökonomischen Augenmaßes der Gewerkschaften, die immer ganz genau so viel fordern, als „drin“ ist.

Im Zeitalter der aktiven Konjunkturpolitik und der kollektiven Aktionen hat sich aber die Situation völlig verändert: Dadurch, daß alle Unternehmen durch die Forderungen gleichermaßen betroffen sind, ja daß über die Grenzen der einzelnen Staaten hinweg bei praktisch allen Industrienationen ähnliche Prozesse im Gang sind, hat die einzelne Firma die Möglichkeit, sich schadlos zu halten, die Verluste zu „sozialisieren“, genauer gesagt, Verluste durch Überwälzung der Mehrkosten auf die Allgemeinheit zu vermeiden.

Kriterien für die Unbedenklichkeit von Forderungen sind heute nicht mehr die Insolvenzstatistiken, sondern Inflationsrate, Steuer- und Ab-gabenlasit, Budget- und Außenhandelsdefizit — und früher oder später auch die Arbeitslosenrate. Wer diesen Konnex nicht sehen will, kann freilich alle Forderungen bagatellisieren, steht aber ratlos vor jenen national-ökonomischen Krank-heiitesymptomen und weiß keine Abhilfe zu schaffen.

Nun sei gewiß nicht behauptet, soziale Überforderungen der wirtschaftlichen Leistungskraft seien die einzigen Ursachen von Inflation, Arbeitslosigkeit, Steuerdruck und Defiziten. Sie gehören aber zweifellos zu den gravierendsten Ursachen, und ohne ihre Harmonisierung in ein ökonomisches Gesamtkonzept kann die Volkswirtschaft nicht in Ordnung gebracht werden. Auf den Gebarungserfolg des einzelnen Betriebes bezogen, ist das Augenmaß der Gewerkschaften, solange es sich um kollektive Aktionen handelt und die Sozialisierung der Verluste funktioniert, immer reichtig. Es kann gar nicht anders sein, gleichgültig, ob sie nun die Hälfte oder das Dreifache des tatsächlich Geforderten verlangen.

Der Primäreffekt Insolvenz bleibt — solange keine anderen Faktoren

hinzutreten — unter den heutigen Gegebenheiten aus. Insofern ist die Sozialpolitik tatsächlich ökonomisch neutral. Was aber eintritt — und zwar sehr massiv — ist der Sekundäreffekt, derjenige der sozialisierten Verluste in Form von Inflation, Arbeitslosigkeit, Steuer und Defiziten. |

Die Sozialisierung der Verluste ist aber keineswegs — wie SPÖ-Gene-ralsekretär Blecha vor kurzem behauptet hat — ein Ergebnis der Sozialen Marktwirtschaft, sondern im Gegenteil eine Folge der Uberlagerung der Marktwirtschaft durch zu viel Kollektivaktionen und Dirigismus. Sie tritt unter den gegebenen Umständen in der sozialistischen Gemeinwirtschaft ebenso auf wie in der „kapitalistischen“ Privatwirtschaft.

Es fragt sich, ob es in der gegenwärtigen Situation noch zu verantworten ist, die Lohnpolitik ausschließlich den Sozialpartnern zu überlassen.

Damit sei keineswegs der soziale Fortschritt negiert. Aber ein sozialer Fortschritt, welcher den Primat der Vollbeschäfigung und der Wäh-rungsstabilität für vergleichsweise nebensächliche Ziele aufopfert, welcher ohne Rücksicht auf die gesamtökonomischen Folgen durchgepeitscht wird, ist in Wahrheit ein sozialer Rohrkrepierer.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung