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Montesquieu oder Rousseau?
Rousseau oder Montesquieu? Nach einem berühmten Wort muß jede Generation den Kampf zwischen beiden neu austragen. Forderungen nach identitärer Demokratie signalisieren meist Krisen der repräsentativen Demokratie. Wenn diese konstituierenden Begriffe wie Gemeinwohl und Amt, Vertrauen und Verantwortung in der politischen Praxis relativiert werden und an Sinn verlieren, wird das Ideal der identitären Demokratie mit Absolutheitsanspruch vorgetragen und die Repräsentativdemokratie verworfen.
Montesquieu oder Rousseau? So könnte Wolfgang Mantls 400 Seiten umfassender und ausgewogener Beitrag zur modernen Staatsformenlehre heißen. Er resümiert und reflektiert die deutschsprachige Demokratiediskussion im 20. Jahrhundert. Sein „Beitrag zur modernen Staatsformenlehre“ ist aber mehr als eine Bilanz gesellschaftspolitischer Konflikte der sechziger und siebziger Jahre.
Das Thema gibt Mantl Gelegenheit, seine große Bildung und Belesenheit einzusetzen und unter Beweis zu stellen. Er gibt eine Orientierung für die Weiterführung der Diskussion. An Hand der Dogmengeschichte, die im Zusammenhang mit dem geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext referiert wird, arbeitet Mantl die verschiedenen Inhalte von Repräsentation und Identität heraus.
Vielleicht kommt dabei der Zusammenhang des Strukturwandels der Demokratie mit dem Strukturwandel der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, deren Konzentrationsprozesse und Krisenerscheinungen den modernen Staat und die Entwicklung zur „verwalteten Welt“ entscheidend mitprägen, etwas zu kurz.
Um so mehr freut man sich über Mantls grundlegende Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, der nicht nur in der Zwischenkriegszeit bewußtseinsbildend wirkte, noch mehr aber über die Auseinandersetzung mit Gerhard Leibholz, dessen Ein-
fluß auf das Schrifttum der Zweiten Republik groß ist. Leibholz bezeichnet die Parteiendemokratie als Form der identitären Demokratie, indem er das Naheverhältnis Volk-Parteien mit Hilfe einer Identifikation zur Identität verdichtet
Es besteht die Gefahr, daß damit der totale Parteienstaat legitimiert wird und die eigentlichen Formen der direkten Demokratie ausgeklammert werden.
Der personale und plurale Zug des Repräsentativsystems ist gerade für die Parteiendemokratie wesentlich.
Die Entwicklung der Demokratiediskussion wird vort Mantl vor allem an Hand der politologischen und staatsrechtlichen Literatur demonstriert. Dabei werden für die „Identitäts-Renaissance“ einerseits Werner Weber, anderseits Johannes Agnoli und als Gegenpositionen Emst Fraenkel, Karl Loewenstein und Ulrich Scheuner in den Vordergrund gestellt.
Nach dem Demokratiekonsens der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand als Antwort auf die „Herrschaft von Parteien und Verbänden“ eine „Unke“ und „rechte“ Demokratiekritik. Diese nahm vor allem den Pluralismus als „staatszerstörende Poly-kratie“ aufs Korn, während jene den Pluralismus der Distributionsebene als „verschleiernde Reduktion des auf der Produktionsebene bestehenden Klassenantagonismus“ denunzierte.
Während nach der „rechten“ Kritik der Staat als Einheit und Autorität durch die gesellschaftlichen Großorganisationen zersetzt, ja ersetzt wird, fungiert er nach der „linken“ als manipulierender Integrator, der die Massen von der elitären Herrschaft des Kapitals fernhält und diese in einer „Demokratie ohne Demos“ aufrechterhält.
Scheuner, Fraenkel und Loewenstein haben dagegen immer wieder die repräsentative Komponente der Demokratie ins rechte Licht gerückt, wobei Fraenkel und Scheuner ihre Unersetzbarkeit und die dosierende
Mischung mit der identitären Komponente hervorheben. Hennis hat vor allem den Amtsgedanken und damit verbunden Vertrauen und Verantwortlichkeit als politische Kategorien in der Diskussion wiederbelebt.
Der allgemeine Trend in der theoretischen Diskussion ist durch das Erstarken der identitären Komponente gekennzeichnet. Das noch herrschende Motto lautet: Mehr Identität, weniger Repräsentation.
Forderungen nach Partizipation im Sinne unmittelbarer Mitwirkung des einzelnen an politischen Sachentscheidungen, Bürgerinitiativen im Sinne von zeitlich begrenzter Vereinigungen zur partizipatorischen Durchsetzung einzelner Sachziele, Demokratiereform, Demokratisierung im Sinne von mehr oder besserer Demokratie im Staat, von Herstellung demokratischer Strukturen in anderen Gesellschaftsbereichen, von Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz oder als sozialmoralischer Appell kennzeichnen die Diskussion.
Mantl nimmt daran offen und kritisch teil, wobei er den Demokratisierungsanforderungen vor allem das Effizienzargument und das Freiheitsargument entgegenhält. Mantls Arbeit ist geradezu ein Nachschlagwerk, eine Art Enzyklopädie. Als Habilitationsschrift ist das Buch nicht zur Gänze für einen großen Leserkreis geschrieben. Das, was aber für die Volksbildung und für die politische Bildung von großem Wert ist, ist die kritische Wiedergabe und originelle Auseinandersetzung mit der Demokratiediskussion. Mantls Beitrag ist ein Standardwerk zur Demokratiediskussion.
REPRÄSENTATION UND IDENTITÄT (Demokratie im Konflikt - Ein Beitrag zur modernen Staatsformenlehre). Von Wolfgang Mantl; aus „Forschungen aus Staat und Recht“ Nr. 29; Springer Verlag; Wien/New York 1975.
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