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Wie vernünftig ist die „soziale Demokratie”?

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Ein gutes Programm müsse folgende Eigenschaften haben: „Es muß in einer klaren Sprache abgefaßt, es muß kurz und es darf wissenschaftlich nicht anfechtbar sein.” So Wilhelm Liebknecht von der Jahrhundertwende auf dem Erfurter Parteitag der SPD.

Der Forderung nach Kürze entspricht der vorliegende SPÖ-Entwurf mit seinen knapp 200 Absätzen. Ob er sprachlich klar und wissenschaftlich sauber ist, solj geprüft werden. Ich frage also: Was kann ich mir unter seinen Worten und Sätzen vorstellen?

„Die Sozialisten wollen die politische Demokratie zur sozialen Demokratie weiterentwickeln.” So lautet der neu gefaßte Programmgrundsatz. Die neue Formel ist indes nichts anderes als das fünfzigjährige Jubiläum eines austromarxistischen Lehrstücks.

Max Adler definierte damals die Alternative politische oder soziale Demokratie in einem gleichnamigen Werk folgendermaßen: „Das Wort Demokratie bezeichnet einmal einen bloß politischen Tatbestand, nämlich die politische Gleichberechtigung im Staate und in der Gemeinde. Das andre Mal aber… die soziale Gleichheit aller Bürger in der Gemeinschaft.” Undoes wird ,»immer klarer hervortreten, daß soziale Demokratie und sozialistische Gesellschaft im Grunde genommen ebensolche Wechselbegriffe sind wie politische Demokratie und Klassenstaat”. Nur verschiedene Begriffe also für ein und dieselbe Sache.

In genau diesem Sinne sind im Entwurf die Wendungen von der sozialen Demokratie zu verstehen. Etwa wenn es heißt, sie sei „die Durchdringung aller Bereiche der Gesellschaft mit den Ideen und Grundsätzen der Demokratie”.

Zweierlei ist nun entscheidend, damit soziale Demokratie überhaupt möglich sein kann:

• Die prinzipiell gleiche Kompetenz aller Gesellschaftsglieder (in einer Familie beispielsweise), an Entscheidungen mitzuwirken.

• Die Pflicht jeder gesellschaftlichen Autorität, sich beständig durch die Zustimmung aller Gesellschaftsglieder oder ihrer Mehrheit zu legitimieren. Also nicht nur die Wissensautorität, sondern ebenso die Weisungsautorität (der Eltern etwa) bedürfen einer solchen beständigen Legitimierung „von unten”.

Kann der Totalanspruch der Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche menschengerecht sein oder muß er grundsätzlich eingeschränkt werden (wobei er dann innerhalb dieses beschränkten Rahmens sehr wohl vernünftig und menschenwürdig sein kann)? Bevor ich diese Kernfrage inhaltlich zu beantworten versuche, muß ich die sprachlichen Filter durchstoßen, welche den gemeinten Inhalt verdecken.

Man numeriere einmal die Absätze des Programmentwurfs durch und vergleiche dann die verstreuten Aussagen zu ein und demselben Gegenstand! Dabei entdeckt man folgenden sprachlichen Filterungsmechanis- mus:

1. Filter: „Probleme entstehen vor allem(!) aus den wirtschaftlichen Verhältnissen.” (Abs. 27) Filter abmontieren.

2. Filter: „Die Wirtschaftsordnung bestimmt in grundlegender Weise(!) die Lebensverhältnisse und Interessen der Menschen.” (Abs. 30) Wieder abmontieren.

3. Filter: „Politische Bewegungen knüpfen an diesen unterschiedli- chen(!) Interessen an.” (Abs. 30) Abmontieren.

4. Filter: „Die soziale Entwicklung war stets von den Gegensätzen(!) zwischen den Abhängigen und den ökonomischen Mächten bestimmt.” (Abs. 32) Abmontieren.

Reine (marxistische) Aussage: „Auch heute ist dieser Gegensatz(!) von entscheidender^) Bedeutung.” (Abs. 32)

Oder: Was soll der bedeutungsschwangere Gedankenstrich im Kapitel „Die offene Partei”, außer verdunkeln? („Wir Sozialisten verlangen von den Katholiken kein Gewissensopfer - wir respektieren ihr religiöses Bekenntnis.”) Als ob sich das Gewissen bloß auf die Respektierung der eigenen Überzeugung bezöge. Suggeriert der. Gedankenstrich.

Oder: Sobald auf „schwer durchschaubare” Sachverhalte verwiesen Wird, ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten. Es folgen schwer durchschaubare Sätze.

Ein Höhepunkt sozialistischer Selbstverschleierung sind wohl „die undurchschaubarer gewordenen Widersprüche “. Wiė kann, was als Widerspruch gar nicht durchschaut werden kann, überhaupt noch als solcher ausgesagt werden? Und ein solcher Unsinn wird noch in die Steigerungsform erhoben!

Durch die wenigen Kostproben von „klarer Sprache” und „wissenschaftlicher Unanfechtbarkeit” gewitzigt, wissen wir, daß wir die Worte auf die eher versteckten Begriffe zurückverfolgen müssen.

Inhaltlich will ich nun an Hand des gesellschaftlichen Teilbereichs „Fajni- lie” prüfen, ob sich auch hier die „Demokratie als Gestaltungsprinzip” total verwirklichen läßt.

In Sinne der angestrebten Totaldemokratisierung aller Gesellschafts bereiche „bekennt sich (die SPÖ) zur demokratischen partnerschaftlichen Familie”. Um dann noch deutlicher zu werden: „Voraussetzung für eine partnerschaftliche Familie ist ein demokratisches Familienbild”. Ich nehme zur Kenntnis: Partnerschaft hat in der sozialdemokratischen Terminologie keine Eigenbedeutung, sondern umschreibt lediglich einen Anwendungsbereich der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung.

Was aber ist, wenn dieser Bereich der Gesellschaft gerade durch eine wesentliche Ungleichheit gleichwertiger Chancen (Anzenbacher) gekennzeichnet sein sollte?

Das Erschütternde an der Demokratisierungsdoktrin für Familien liegt darin, daß sie bereits ein Vergessen des Kindes voraussetzt. Und nicht nur der Ungeborenen. Keine einzige Programmforderung ist spezifisch vom Kind her gedacht! Totaldemokratisierung muß entweder das Kind mitdemokratisieren, was offensichtlich unsinnig ist (gleich Wissenskompetenz der Kinder; Pflicht der Eltern, sich in ihrer Autorität auch gegenüber ihren unmündigen Kindern zu legitimieren!). Oder die Sonderstellung des Kindes in der Familie fällt überhaupt unter den Tisch.

Weil eine Totaldemokratisierung vom Kind her undenkbar ist, ist die SPÖ auch blind für die vom Kind her resultierende Ungleichheit gleichwertiger Chancen: der Frau als Mutter und des Mannes als Vater. In diesem Sinne wundert es nicht mehr, wenn das Familienkapitel des Programmentwurfs gänzlich ohne die Begriffe Vater und Mutter auskommt.

Vor 20 Jahren vermochte die SPÖ in ihrem Wiener Programm noch vom Kind her zu denken.«Heute erscheint ihr offentlichtlich überholt, was sie damals sagte: „Viele Jugendnöte sind auf die Zerrüttung des Elternhauses zurückzuführen … Die Festigung der Familie ist in erster Linie ein moralisches und soziales Problem des ganzen Volkes.” Heute wird die Zerrüttung zum Prinzip erhoben.

Wie sehr das Ignorieren einer grundsätzlichen Grenze der Demokratisierung unvernünftig und menschenunwürdig wird, versuchte ich an einem Beispiel zu zeigen. Erst wenn die Frage einer grundsätzlichen Grenzbestimmung der sozialen Demokratie nach allen Seiten hin nach Gründen entschieden ist, kann ihr innerhalb ihres begrenzten Bereiches mit Recht Vernunft und Menschengerechtigkeit zugesprochen werden.

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