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Müder Dompteur ?

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Zu Neujahr bemüht man gemeinhin Kaffeesud und Blei, um eine ungewisse Zukunft heimelig zu adaptieren. Der Rückblick kommt da nur zu leicht zu kurz. Doch gerade dieser lohnt — etwa in politicis austriacis.

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Zu Neujahr bemüht man gemeinhin Kaffeesud und Blei, um eine ungewisse Zukunft heimelig zu adaptieren. Der Rückblick kommt da nur zu leicht zu kurz. Doch gerade dieser lohnt — etwa in politicis austriacis.

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Vor einem Jahr noch war die innenpolitische Szene Österreichs eindeutig: Hie eine von der absoluten Mehrheit getragene starke Regierung, da eine Opposition, von der man hoffen konnte, sie werde — ist man im Trockendock fleißig — erstarken und gründlich kontrollieren.

Auch der Regisseur stand fest.

Und nun, genau 12 Monate später7 Grundsätzliches und Entscheidendes hat sich geändert:

• Die Regierung verlor (in dieser Reihenfolge) den Tritt, die Nerven und — wenn man den Meinungs--befragungen Glauben schenken darf — möglicherweise auch schon die Gunst der Wähler. Der Weg auf die Überholspur zu „einem modernen Österreich“ geriet zur Fahrt auf der linken Fahrspur der Preissteigerungen. Gefälle: 7,4 Prozent.

Der Folgen gibt es heute viele. Zuerst einmal soll 1973 die Reforminflation zugunsten von Reformen, die keine Kosten verursachen, zurückgestaut werden. Des weiteren wird man darangehen, die Regierung umzubilden, genauer: neue Staatssekretäre zu installieren. Abnützungserscheinungen des Kabinetts Kreisky II?

Man muß nicht alle politischen Ereignisse des vergangenen Jahres in Erinnerung rufen oder still schlummernde Pläne und Versprechungen der Regierungspartei exhumieren, um ein ResuiHe“e“.zü“ ziehen: Meinte man vor zwölf Monaten noch, in Bruno Kreisky den Dompteur des Bürgertums zu sehen, dem auch oder gerade in schwierigen Situationen immer etwas einfällt, so stellt man sich heute eher — die politische Umwelt in ihrer vollen Breite wertend — die Frage, wie es weitergehen soll.

• Durch dieses Geflecht von Zugzwängen und vornehmlich wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten wurden die Institutionen aufgewertet. Die Sozialpartner — das Stabilisierungspaket beweist es — übernahmen einen noch größeren Teil eigentlicher Regierungsverantwortung. Die Machtverlagerung ist perfekt, Kanzler Kreisky und sein Vizekanzler Häuser delegierten bereits an die Männer der „heimlichen großen Koalition“: Anton Benya und Rudolf Sallinger.

Das weist auf zweierlei hin: Zum einen hat der Gewerkschaftsflügel (innerparteilich besehen) — gegen Kreisky einen Sieg errungen und seinen Stellenwert dadurch erhöhen können. Motto: Die Preise müssen wir, die Gewerkschafter, in die Hand nehmen, um sie in den Griff zu bekommen. Die Beispielfolgen — etwa für die Novellierung des ORF-Gesetzes — sind offensichtlich.

• Zum anderen verdeutlicht die Involvierung der Sozialpartner in das heikelste innenpolitische Thema eine Einengung des Spielraumes der großen Oppositionspartei. Wer Verantwortung zu tragen verpflichtet und nicht zynisch genug ist, auf Kosten aller ein Doppelspiel zu treiben, fällt als harte Opposition aus. Die Opposition als Regierungsassistent: eine perfekte Rollenumkehr?

Schließlich beleuchtet dieses Herunterspielen von Regierungsaufgaben auf die Ebene der Sozialpartnerschaft auch die (de facto) Abgabe von Regierungsgewalt an Institutionen, die ihrer juristischen Konstruktion nach Vereine oder Körperschaften sind und den endgültigen Sieg einer praktizierten Realverfassung gegenüber dem Buchstaben der Bundesverfassung. Die tatsächlichen politischen Machtstrukturen sind endgültig nicht mehr mit den formell postulierten Entscheidungsinstanzen deckungsgleich. Ein Sieg der vielzitierten „normativen Kraft des Faktischen“?

• Der Parlamentarismus in seiner heimatlichen Ausformung stieß 1972 infolge eben dieser Machtverlagerungen oft ins Leere und geriet dadurch im vergangenen Jahr zwar nicht in eine ernste Krise, aber doch in beträchtliche Schwierigkeiten. Wann endlich einigt man sich auf eine Reform der Kontrollrechte des Parlaments, besser: der Opposition gegenüber der Regierung? Aber offenbar wollte diese Opposition ja gar nicht wirklich kontrollieren.

Die Verlagerung von Macht und EntSLheidungszeiilren läßi Bürokratien und Experten zu Machtträgern werden. Die Tendenz ist 1972 neuerlich stärker geworden: Es entsteht auch in Österreich jene neue Klasse von politischen Managern, die in Beraterstellen und Planstäben die Macht tatsächlich ausüben. Sonderverträge machen es möglich.

Das erzeugt ob der Undurchschaubarkeit in der Öffentlichkeit Unbehagen, das vorerst noch kaum faßbar ist, sich aber als ernstes Problem der Glaubwürdigkeit der Politik stellt. Die Frage nach dem Staat und seiner Basis folgt da bald nach.

Die Öffentlichkeit reagiert darauf im Augenblick mit Flucht in den Konsum und erkundet Preisnachlässe bei Barzahlung.

Freilich: Der Wähler hat erst wieder 1975 das Wort.

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