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Tischchenrücker im Vormarsch

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Der Okkultismus blüht. Sehnsucht nach Mächten, die unserer Zivilisation überlegen sind? Auflehnung gegen das Establishment und die offiziellen religiösen Werte?

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Der Okkultismus blüht. Sehnsucht nach Mächten, die unserer Zivilisation überlegen sind? Auflehnung gegen das Establishment und die offiziellen religiösen Werte?

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23 Prozent der Katholiken, 21 Prozent der Protestanten und elf Prozent der Konfessionslosen glauben in Europa an die Wiedergeburt. Uber 50 Prozent lesen täglich das Horoskop, die Zahl der Magier und Wahrsager wird in Italien auf 150.000 geschätzt, in anderen Ländern ist die Situation ähnlich. Praktiken wie Tischchenrücken haben eine neue Blüte erfahren und in manchen Kreisen epidemieartige Formen angenommen. Ein Fünftel der Bevölkerung sucht neben dem Arzt einen Heiler oder Heilpraktiker auf. Bekannte Heiler sind bis zu einem Jahr hin ausgebucht Ihre Dienste werden von allen Schichten der Bevölkerung bis zu Politikern und Industriellen in Anspruch genommen.

In den USA und immer mehr auch in Europa erzielt der Absatz von Wahrsagerkarten und Kristallkugeln (zur Erzeugung von Visionen) nie gekannte Rekorde. Auch in den Oststaaten nimmt dieses Interesse merklich zu. Das beste Zeugnis für dieses außerordentliche Anwachsen der Hinwendung zum Irrationalen seit Mitte der sechziger Jahre ist die unübersehbare Literatur, die von besonnenen Anleitungen züKMe-ditation bis zum Umgang mit Transplanetariern reicht, wobei die schwarzmagische Literatur, die von direkter Beeinflussung und Verfluchung bis zum Satanskult reicht, eine besondere Auflagensteigerung erfährt. Die zahlreichen magischen Zirkel seien nur noch am Rande erwähnt.

Diese große Hinwendung zum Irrationalen ist im Grunde Ausdruck eines wachsenden Gefühls der Unsicherheit und der Hoffnung auf geheimnisvolle, der technischen Zivilisation überlegene Mächte und Wirklichkeiten.

So werden unter der Bezeichnung „Okkultismus“ (lateinisch: occul-tus = verborgen, geheim) alle Erscheinungen, Lehren und Praktiken zusammengefaßt, die sich auf verborgene (okkulte) Kräfte in Welt, Mensch und Außerweltlichem beziehen und der normalen, auf der Sinneswahrnehmung beruhenden Erfahrung unzugänglich sind.

Im einzelnen geht es vor allem um die von der Wissenschaft bis heute noch ungelösten Fragen:

Ist außer der grob-physischen Welt und der Welt des Geistes noch eine Zwischenschicht anzunehmen? Gibt es eine Fernwirkung? Was sind, im letzten Raum, Zeit und Materie? Gibt es ein Jenseits? Gibt es ein Hereinwirken Jenseitiger? Gibt es Erkenntniswege, die außerhalb der sinnlichen Erkenntnis liegen? Gibt es einen materiefreien Geist? — Gibt es ein Fortleben nach dem Tode im Sinne eines kontinuierlichen Bewußtseins?

Neben dieser Hinteff ragung der Wissenschaft bedient man sich des Okkulten aber auch, um sich gegen das wissenschaftliche und kulturelle Establishment und die offiziellen religiösen Werte aufzulehnen. Man sucht nach präjüdisch-christlichen und präklassischen okkulten Spuren, nämlich nach ägyptischen, chinesischen, tibetischen oder indischen „Weisheitslehren“.

Obwohl dieser Aufbruch bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Kreisen der Künstler für eine weltweite Breitenwirkung sorgte, wurde dem Phänomen von theologischwissenschaftlicher Seite in keiner Weise Rechnung getragen. Im Gegenteil, die wissenschaftliche Betrachtung okkulter Phänomene beschränkte sich immer mehr auf jene Phänomene, die durch unbewußt wirkende Fähigkeiten der betreffenden Person zu erklären sind, was zu einer heute noch andauernden Kontroverse zwischen denen führte, die besondere Ereignisse im Zusammenhang mit sogenannten Medien „Jenseitigen“ zuschreiben (Spiritisten) und jenen, die der Ansicht sind, daß alles durch die psychischen Fähigkeiten zu erklären sei.

Diese psychologische Ausrichtung führte 1889 Max Dessoir zur Formulierung des Wortes „Pa-rapsychologie“ — als Bezeichnung der Wissenschaft, die sich mit den Erscheinungen befaßt, die aus dem normalen Verlauf des Seelenlebens heraustreten. Nach 1920 kam es dann zu einer Abhebung des Begriffes „Okkultismus“ vom Begriff „Spiritismus“, indem man die okkulten Phänomene rein innerpsychischen Kräften zuschrieb und „jenseitige Einflüsse“ als unwissenschaftlich erachtete.

Durch die Errichtung eines parapsychologischen Laboratoriums 1934 an der Duke University (Durham, USA) setzte sich mit der Bezeichnung „Parapsycholo-gie“ die rein psychische Deutung okkulter Phänomene im wissenschaftlichen Bereich endgültig durch. Diese Deutung führte jedoch auch zu einer Begrenzung der wissenschaftlichen Betrachtung des „Okkulten“ auf die Außersinnliche Wahrnehmung (ASW) und die Psychokinese (PK), womit die übrigen Bereiche des Okkulten aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausgeklammert und dem freien Wildwuchs überlassen wurden, was in den letzten Jahrzehnten zu den buntesten Blüten führte.

Diese Auswüchse konfrontierten die Wissenschaft mit der Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung, die alle Bereiche des Okkulten zu umfassen vermag und Erfahrung, Spontanereignisse, wissenschaftliches Bemühen sowie Anschauungs- und Erklärungsmodelle miteinbezieht. So prägte ich 1969 den Begriff „Para-normologie“, was nichts anderes besagt, als „Wissenschaft von den paranormalen Phänomenen“.

Dieser Begriff ist frei von jeder Ausgangshypothese und geeignet, nicht nur den Gesamtbereich des Okkultismus im weitesten Sinne, einschließlich der wissenschaftlichen Bemühungen der Parapsychologie, abzudecken. Dies bringt die Paranormologie in Verbindung mit allen wissenschaftlichen Fachrichtungen, vornehmlich aber mit Physik, Biologie, Psychologie, Philosophie und Theologie, befaßt sich die Paranormologie doch mit jenen Phänomenen, deren Verlaufs strukturen von den bekannten Naturprozessen beziehungsweise den anerkannten Vorstellungsmustern der Deutung von Welt und Mensch abweichen oder abzuweichen scheinen.

Da bei diesen Phänomenen die Frage der Verursachung zunächst offenbleibt, kann eine Gliederung der einzelnen Phänomene nur nach den phänomenologisch hervorstechendsten Formen erfolgen, wobei sich eine Gliederung in die Fachbereiche Paraphysik, Parabiologie, Parapsychologie und Parapneumatologie (Pneuma = Geist) anbietet. Bei dieser Gliederung (siehe Kasten) darf jedoch nicht übersehen werden, daß es zur Eigenart des Paranormalen gehört, über ein Sachgebiet hinauszuragen und zuweilen alle Gebiete zu involvieren.

Die Kirche begegnet diesen okkulten (paranormalen) Phänomenen in zweierlei Hinsicht: Zum einen berühren die okkulten Phänomene, wie einleitend dargelegt, zentrale Fragen des menschlichen Lebens und beeinflussen dadurch das Weltbild und das Verhalten des einzelnen, zuweilen sogar in einer Form, die vom kirchlichen Verständnis von Welt und Mensch abweicht; zum andern ist die Kirche im religiösen Verhalten ihrer Mitglieder (Visionen, Erscheinungen, Stigmatisationen, Privatoffenbarungen und dergleichen) sowie in ihren eigenen Lehräußerungen (Wunderheilungen, Marienerscheinungen, Besessenheit usw.) mit paranormalen Phänomenen konfrontiert.

In beiden Fällen ist zunächst die Frage nach der Echtheit des einzelnen Phänomens zu stellen. Sofern sich das Phänomen als echt erweist, wird es Gegenstand empirischer Untersuchung. Von theologischer Bedeutung werden okkulte Phänomene, soferne sie den religiösen Kontext berühren, nur hinsichtlich ihres Einflusses auf das menschliche Verhalten und hinsichtlich ihrer Verursachung.

Die Kirche kann zum Beispiel von Wunderheilung nicht hinsichtlich des Phänomens, sondern nur hinsichtlich der Verursachung sprechen, denn wahrnehmbare Phänomene, wie eine paranormale Heilung, sind immer natürlich. Ubernatürlich können nur Ursachen sein. Das gleiche ist von Besessenheit und allen anderen Phänomenen zu sagen, wo eine jenseitige Einwirkung angenommen wird.

Die Kirche muß sich daher zur Abklärung der Echtheit und der Eigenart „okkulter Phänomene“, auch derer im religiösen Bereich, der Paranormologie und der interdisziplinären Erforschung von Grenzphänomenen bedienen. Als

Musterbeispiel dieser sachlichen Betrachtungsform kann die Vorgangsweise zur Beurteilung der Heilungen in Lourdes und der Heilungen in Verbindung mit Heiligsprechungsprozessen angesprochen werden, wobei die para-normologische Betrachtung noch auszubauen wäre. Hingegen werden die Verlautbarungen gegen den Spiritismus (27. April 1917), Radiästhesie (26. März 1942), Magnetismus (4. August 1856), um nur einige zu nennen, einer sauberen phänomenologischen Betrachtung nicht gerecht, weil die Beurteilung fast ausschließlich auf Verhaltens- und Deutungsmuster begrenzt wird.

Auch im Bereich „der okkulten Phänomene“ kann die Spreu vom Weizen nur bei eingehender Kenntnis der einzelnen Phänomene, Techniken und Anschauungsformen getrennt werden. Philosophische und theologische Argumente allein können hier nur selten überzeugen, da innere Erfahrungen meist eine andere Sprache sprechen. Wissenschaft und Kirche müssen daher den Mut aufbringen, wollen sie im Bereich des Paranormalen ernst genommen werden, neben den möglichen Erklärungen den Bereich des Unerklärbaren unangetastet zu belassen, da den Menschen das Erklärbare allein niemals erfüllen kann. Je mehr das Erklärbare zum Maß aller Dinge gemacht wird, desto stärker wächst das Bedürfnis nach dem Okkulten.

Solange es aber in der theologischen Ausbildung keine Vorlesungen über Paranormologie in der hier skizzierten umfassenden Form gibt, werden Seelsorger und Theologen kaum in der Lage sein, im Bereich des Okkulten eine klärende Antwort zu geben. Dies scheint mit ein Grund dafür zu sein, daß heute Institute, die sich ernstlich mit den „okkulten“ Phänomenen befassen, von Ratsuchenden förmlich überlaufen werden.

Prof. Dr. Dr. Andreas Resch ist Redempto-rist und Direktor des Instituts für Grenzgebiete der Wissenschaft in Innsbruck.

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