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Gefährdete Kunst

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Der Verfasser — ein im Westen lebender russischer Kunsthistoriker und Kulturkritiker — bietet hier eine Darstellung der Situation von Dichtung und Kunst in unserer Zeit. Die großen Wandlungen, die sich hier seit ungefähr einem Jahrhundert vollzogen haben, werden kritisch geprüft und Viele davon erscheinen als Zeichen eines Auflösungsprozesses, als verhängnisvolle Entwicklungen, die zum Untergang führen können, weil sie die Kunst an ihrer Wurzel bedrohen. Weidle untersucht nun sehr scharfsinnig und mit dem Rüstzeug eines reichen Wissens und subtiler Einfühlung die einzelnen Phänomene. Es geht hier um alle Bereiche des künstlerischen Schaffens, wenn auch die Dichtung im Vordergrund steht.

Das Thema wird in drei großen Abschnitten entwickelt. „Der Schwund der Phantasiewelten” in der Dichtung wird demonstriert an der Verdrängung des Fabulierens, dem schroffen Gegensatz zwischen Phantasie und Wissen, dem Einbruch von Reportage und „Dokumentation”, dem offenkundigen Verfall der Romanfiguren durch Mangel an Lebensechtheit und an der Durchdringung der Literatur mit popularisierter Wissenschaft. Weidle verweist hier auf die Psychoanalyse, die vor dem Kunstwerk versagen muß. Gefahr droht aber auch vom extremen Ideal der „poesie pure” oder vom übersteigerten Subjektivismus, der Verfangenheit des Dichters in seinem Ich sowie von der bewußten Anpassung der Dichtung an einen Zweck durch aufgezwungene Regeln und Programme.

Im zweiten Teil „Mitternacht der Kunst” untersucht der Verfasser die Wandlungen des Stils in der bildenden Kunst und in der Literatur und datiert den fortschreitenden Verlust der Stileinheit seit der Romantik, in der er das eigentliche „mal du siede” erblickt. Die ästhetische Analyse dringt in die schöpferische Leistung ein und erzeugt ein Ueber- gewicht des Kritischen über das Schöpferische. Abstraktion “nd Konstruktion (der Künstler wird zum Ingenieur sowie die überhebliche Isolierung des Künstlers von der Gemeinschaft sind ebenfalls solche gefährliche Tendenzen, die zum Verfall der Kunst führen.

Der letzte Teil behandelt die Sehnsucht des unter seiner Vereinzelung leidenden Künstlers nach Wandlung der Seele, seine Flucht vor dem grellen Licht des Rationalismus in die Welt des Gefühls und der Fhantasie. Dies wird sichtbar an der Rückkehr zur Erde und zur Natur, zum Mythos und mythischen Denken, zum Fabulieren und zum Abenteuer. Bezeichnend dafür sind auch die Hinwendung zum Unbewußten, die freilich oft nur zu einer „rationalen Inbetriebnahme des Unbewußten” führt, die Irrwege der sogenannten „litterature engagėe”, die Abspiegelung des Chaos durch das Prinzip des Chaos und noch so manche andere Erscheinungen. Zuletzt wird die Frage gestellt: „Wiedergenesung oder Auferstehung?” Weidle sieht die Ursache des Zerfalls der Kunst in ihrer Loslösung vom religiösen Urgrund. Die Gemeinschaft, die ihrem normalen Wachstum zugrundeliegt, sei religiöser Natur, und die künstlerische Erfahrung sei tief verwurzelt in der religiösen Erfahrung. Das Stirb und Werde gelte auch für die Kunst. Erst nach ihrer Auflösung könne sie wieder auferstehen in einer neuen Verbundenheit mit dem Glauben.

Soviel zur Charakteristik des Werkes in ganz großen Zügen. Es ist ungemein reichhaltig an Erkenntnissen und Deutungen, und wenn sich auch gegen manche Thesen des Verfassers Widerspruch meldet, so ist die Lektüre doch stets fesselnd und anregend. Hervorzuheben ist, daß die Kriterien des Autors immer dem künstlerischen Gegenstand gerecht werden. Weidle vermeidet jede einseitige Wertung und behält stets die Vielschichtigkeit des Kunstwerks im Blick, denn es bedeutet ihm „eine in sich geordnete Welt”. Die besondere Religiosität des alten Rußland bestimmt deutlich seine Anschauungen. Die großen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge werden in der lebensnahen, stilistisch bildkräftigen Darstellung klar herausgearbeitet und eine reiche Fülle von Beispielen stützt die Ausführungen. Dieses gehaltvolle Buch geht alle an, denen die Probleme des künstlerischen Schaffens am Herzen liegen, den Kunstkritikern sei es aber besonders empfohlen.

DAS GEWISSEN. Mit Beiträgen von E. Blum, E. Böhler, C. G. Jung, J. Rudin, H. Schär, R. I. Z. Werblowsky, H. Zbinden. (Studien aus dem C.-G.-Jung-Institut, Zürich VII.) Roscher- Verlag, Zürich und Stuttgart. 208 Seiten. Preis 18 sfr.

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf eine Vortragsreihe über; das gewichtige Problem des Gewissens zurück, die vom C.-G.-Jung-Institut veranstaltet wurde. Wegen ihres großen Widerhalles und wegen der’ Bedeutung des’ Themas würden sie in Buchform herausgege’ben. In ihnen beleuchten „sieben Persönlichkeiten von wissenschaftlichem und geistigem Rang” die bedeutsameren Aspekte des Themas von ihren verschiedenen Standorten aus.

Hans Zbinden zeigt in einer beachtenswerten kulturkritischen Betrachtung aus dem Bereich der Soziologie die Ohnmacht des Weltgewissen , die Diskrepanz zwischen der materiellen und technischen Entwicklung einerseits und- dem Rückstand ethischer Kräfte anderseits und geht ihren Ursachen nach. Er erkennt als Aufgabe der Zeit, den Rückstand durch eine entschiedene Wendung in unserem Wollen und Verhalten aufzuholen und das Gleichgewicht zwischen der Welt des Materiellen und Technischen und der geistigen Wertwelt herzustellen. Eugen Böhler findet dieselbe Zurückdrängung des Gewissens mit ihren unguten Folgen besonders im Wirtschaftsleben. Zur Heilung eignen sich nicht individualistische oder kollektivistische Ideologien, sondern der „königliche Weg” C. G. Jungs, das Suchen der Verbindung mit dem allgemeinen Unbewußten, das alle Gegensätze eint. R. I. Z. Werblowsky bemüht sich, die sachlichen Entsprechungen des Gewissens, für das es im Judentum kein eigenes Wort gibt, ebendort die Gewissensauffas- sungen im Protestantismus, wobei er naturgemäß Luther einen breiteren Platz einräumen muß. In wohltuender Klarheit legt Josef Ru din die katholische Gewissensäuffassuhg dar. Ernst Blum unterrichtet über den Werdegang der Ansichten Freuds vom Gewissen. C. G Jung endlich unterscheidet das Gewissen vom Sittenkodex, den er als Vom Bewußtsein erworbenen Bestand an traditionellem Brauchtum aüffaßt; das echte Gewissen erklärt er aus der Kollision des Bewußtseins mit den numi- nosen Archetypen, den vererbten instinktiven Verhaltensweisen, die dem allgemeinen Bewußtsein angehören.

Das Buch bietet also eine Vielfalt von Ideen und Anregungen. Der kritische Leser muß sichten, was davon Tatsache und was Deutung ist, und muß sich fragen, welche Deutungen er annehmen kann .und welche nicht. Wenn C. G. Jung etwa das, Phänomen, des Gewissens auf das kollektive Unbewußte, auf die Sphäre des unus mundus zurückführt, wirft er damit sehr grundlegende Fragen der Weltdeutung auf. Dem. der die Ausrüstung zur Auseinandersetzung mit solchen Problemen mitbringt, mag der Band beträchtlich zur Vertiefung seines eigenen Gewissensverständnisses helfen.

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