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Wenn Gott tot ist, ist alles möglich

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In Graz hat jüngst eine Horde Jugendlicher einen Schüler und eine Schülerin überfallen und auf grausame Weise malträtiert. Höhepunkt der Tortur war ein gezielter Fußtritt ins Gesicht des am Boden liegenden Buben, ein „Elfmeter”, wie das in derartigen Bandenkreisen genannt wird.

Marion Gräfin Dönhoff stellte in der „Zeit” fest, daß Gewalt und Barbarei in Deutschland immer mehr um sich greifen. In Brandenburg wurde ein Obdachloser von jungen Rechtsradikalen brutalst getötet, Menschen mit sichtbaren Behinderungen werden beschimpft. Die Herausgeberin der liberalen Wochenzeitung sucht nach Erklärungen: , „zerrüttete Familienverhältnisse, Schulen ohne Autorität, Horror-und Gewaltfilme im Fernsehen, Egozentrik, Mangel an Gemeinsinn.”

Den eigentlichen Grund aber faßt Gräfin Dönhoff in zwei Sätzen zusammen: „Es gibt keine verbindliche Ethik mehr und keine moralischen Prinzipien, die dem Handeln Grenzen setzen. Der Mensch ohne metaphysische Bindungen ist eben seinem Größenwahn ausgeliefert und für jede Manipulation anfällig.”

Wenn Gott tot ist, dann ist alles möglich, sagt Dostojewskij. Ist es nicht bemerkenswert, daß eine herausragende liberale Publizistin zu diesem Schluß kommt? Gerade von bestimmter katholischer Seite wird der Liberalismus immer noch als wertezersetzende Kraft eingestuft, was nur beweist, wie unreflektiert und einseitig derartige Urteile oft gefällt werden.

In der Juni-Nummer des freiheitlichen Magazins „Aula” konstatiert FPÖ-Chef Jörg Haider eine Auflösung der Gesellschaft „in individuelle Strömungen beziehungsweise Alltagsegoismen, wo im Grunde genommen durch den Wohlstand die Beziehungen zum Nächsten, die Verantwortung für die Gemeinschaft abhanden gekommen ist.” Haider fordert eine Diskussion um „eine neue Wertorientierung in der österreichischen Gesellschaft.”

Im „Spiegel” beschäftigte sich der linke Philosoph Jürgen Habermas mit dem Phänomen „Gelähmte Politik” und kommt zu dem Schluß, daß Markt und administrative Macht die dritte Quelle der gesellschaftlichen Integration nicht ersetzen können: dieSolidarität. Solidarität ist ja auch eine der drei Säulen der katholischen Soziallehre.

Immer wieder wird gefragt, welche Gemeinsamkeiten es eigentlich noch gäbe in einer Gesellschaft, die einem Zerfallsprozeß ausgeliefert zu sein scheint. Es gibt solche Gemeinsamkeiten, gerade in einer Zeit der sich auflösenden politischen Lager. Angesichts der drängenden Probleme fragt man sich oft, warum läppische Ersatzthemen immer wieder polarisierend derart in den Vordergrund gespielt werden können. Die notwendige Koalition der Nachdenklichen formiert sich leider nur zögernd.

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