Der Nahe, der Nähere und der Nächste

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Die von Angela Merkel zu verantwortende Flüchtlingspolitik hat von Seiten der Kirchen vorbehaltlose Zustimmung erfahren. Ihre im Herbst 2015 getroffene Entscheidung, die deutschen Grenzen nicht für Flüchtlinge zu schließen, wurde weltweit als eine beeindruckende Geste der Humanität wahrgenommen. Wo sonst sollten die Kirchen stehen, wenn nicht an der Seite der Menschlichkeit?

Doch mit dieser Entscheidung begann auch der Abstieg der deutschen Kanzlerin. Mit ihrer Flüchtlingspolitik konnte sie sich in Europa letztlich nicht durchsetzen. Österreichs um dreißig Jahre jüngerer Kanzler Sebastian Kurz hat im Blick auf die zu erwartenden Folgen einer grenzenlosen Flüchtlingspolitik vernünftig gehandelt und durch die Schließung der sogenannten Balkanroute auch das politische Überleben der deutschen Kanzlerin vorerst gesichert.

Binnen kurzer Zeit sollte sich das politische Spektrum in Deutschland dramatisch verändern. Am rechten Rand hat sich eine Partei etabliert, deren einziges Thema die in ihren Augen verfehlte Migrationspolitik der Regierung Merkel ist und deren politische Agenda in den Ruf mündet: Merkel muss weg! Die "Alternative für Deutschland" (AfD) ist inzwischen im Deutschen Bundestag mit 92 Abgeordneten die am stärksten vertretene Oppositionspartei. Sie ist in allen sechzehn Landesparlamenten vertreten. Vor allem die letzten Landtagswahlen in Bayern und Hessen haben den Parteien der Regierungskoalition in Berlin - CDU, CSU und SPD -herbe Verluste eingebracht.

Dabei hat die Regierung der großen Koalition längst eine drastische Kurskorrektur in der Flüchtlingspolitik vorgenommen. Auf dem Essener CDU-Parteitag vom Dezember 2016 hat die Kanzlerin unter dem Druck ihrer eigenen Partei öffentlich erklärt: "Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen. Das war und ist mein und unser erklärtes politisches Ziel." Doch es hat alles nichts geholfen. Auch ihre im Stil des Propheten Jesaja jüngst vorgetragene Beschwörung "Denkt nicht mehr an das, was früher war, achtet nicht mehr auf das, was vergangen war" verfing nicht mehr. Nach der für die CDU desaströsen Hessen-Wahl hat auch die Kanzlerin die Konsequenzen gezogen und angekündigt, auf dem CDU-Parteitag im Dezember nicht mehr als Parteivorsitzende zu kandidieren und sich nach der Legislaturperiode in drei Jahren ganz aus der Politik zurückzuziehen. Hat ein humanitärer Umgang mit Migration und Flucht in der Politik keine Chance?

Ermahnungen statt Argumenten

Seine Chancen sind schwach, wenn die Argumente, derer er sich bedienen sollte, durch Ermahnungen ersetzt werden. Wenn strittig ist, worin das Gute besteht, reicht es nicht aus, das Volk zu ermahnen, das Gute zu tun. Die Kirche, die sich als Mutter und Lehrmeisterin der Völker versteht, kann ihrem Auftrag nur gerecht werden, wenn sie Argumente für die von ihr vorgetragene Lehre anführt. Im politischen Alltagsgeschäft erfordert dies nicht nur eine moralisch hochstehende Gesinnung, sondern auch und vor allem ein aus Erfahrung und Einsicht gereiftes Wissen, das in der Lage ist, die Folgen politischer Entscheidungen in komplexen Handlungskontexten frühzeitig und gut abschätzen zu können.

Damit war es in der migrationspolitischen Diskussion nicht zum Besten bestellt. Elementare Einsichten ethischer Argumentation blieben auf der Strecke. Vor allem im linksliberalen Milieu wurde der Eindruck erweckt, der ethische Universalismus würde die sogenannten Vorzugsregeln außer Kraft setzten. Jeder Mensch, so war zu hören, sei für einen Christen der Nächste. Wer das nicht wahrhaben wolle, würde das biblische Gebot der Nächstenliebe verwässern und dem ethischen Partikularismus verfallen. Grenzen zu errichten und deren Beachtung einzufordern, wurde als dem christlichen Glauben widersprechend zurückgewiesen.

Was bei diesen und ähnlichen Äußerungen außer Acht gelassen wurde, ist die Unterscheidung zwischen dem universalen Wohlwollen und den aus dieser Gesinnung hervorgehenden Taten. Die Liebe als Gesinnung gilt allen Menschen in gleicher Weise (ethischer Universalismus). Die Liebe als Tat bedarf einer Unterscheidung zwischen dem Nahen, dem Näheren und dem Nächsten. Was der barmherzige Samariter tut, ist eine Selbstverständlichkeit. Er handelt nach dem Prinzip des ethischen Universalismus und wendet die Vorzugsregeln an. Ist der ethische Universalismus einmal akzeptiert, stellt sich die Frage, wie die daraus hervorgehenden Pflichten aufzuteilen sind. Bei der Unterscheidung geht es um die Abwägung konkurrierender Güter und um die Bewertung der Folgen einer Handlung. Genau nach diesem Prinzip verfährt auch die Bibel.

Obergrenzen konkreter Hilfe

Wenn ein deutscher Kardinal behauptet, Obergrenzen dürfe es für Christen eigentlich nicht geben, dann verschleiert das Wort "eigentlich" den Unterschied zwischen Hilfsbereitschaft und tatsächlicher Hilfe. Für die Hilfsbereitschaft darf es keine Obergrenzen geben, für die tatsächliche Hilfe jedoch sehr wohl. Der Philosoph Robert Spaemann hat den Unterschied richtig benannt: "Uneingeschränkt kann die Hilfsbereitschaft sein, aber nicht die tatsächliche Hilfe. Es kann nicht unsere Pflicht sein, uneingeschränkt zu helfen, weil es nicht möglich ist. Wir können es nicht. Und wir sollten auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir unserer Hilfe Obergrenzen setzen."

Diese und weitere grundlegende Einsichten ethischer Argumentation blieben im migrationspolitischen Diskurs weitgehend unerwähnt. Dadurch ist ein diskursives Vakuum entstanden, in das nun zweifelhafte politische Kräfte eindringen und ihr Unwesen treiben.

Ein ausführlicherer Beitrag des Autors zum Thema findet sich in einer Spezialausgabe der "Herder-Korrespondenz"(Nr. 2/18). Am 26. November um 18.00 Uhr diskutiert der Autor mit der Pastoraltheologin Regina Polak über Migration im Wiener Priesterseminar (1090, Strudlhofgasse 7).

In der Politik braucht es nicht nur eine moralisch hochstehende Gesinnung, sondern auch die Fähigkeit, die Folgen politischer Entscheidungen in komplexen Zusammenhängen abschätzen zu können.

| Der Autor ist Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien |

Mit ihrer Flüchtlingspolitik konnte sich Angela Merkel in Europa nicht durchsetzen. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat hier vernünftig gehandelt.

Abschied

Am 29. Oktober kündigte Angela Merkel an, im Dezember den Parteivorsitz der CDU zurückzulegen und nach Ablauf ihrer Amtszeit 2021 auch nicht erneut als Kanzlerin zu kandidieren.

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