Das Ewige ist auch zeitgebunden

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Der Religionssoziologe August Maria Knoll bemühte sich zeitlebens um die Verbindung von religiösem und sozial(politisch)em Engagement.

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Der Religionssoziologe August Maria Knoll bemühte sich zeitlebens um die Verbindung von religiösem und sozial(politisch)em Engagement.

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August Maria Knoll, dessen 100. Geburtstag sich in Kürze jährt, war eine Persönlichkeit, die sich durch ihr Wirken als Ordinarius für Soziologie an der Universität Wien, aber auch durch ihre rege Vortragstätigkeit und zahlreichen Publikationen in die österreichische Geistesgeschichte eingetragen und in ihr bleibende Spuren hinterlassen hat. Ich selbst, der ich an der Universität Wien in den fünfziger Jahren Jus studierte, besuchte auch die stets sehr stark bevölkerten Vorlesungen und Proseminare Knolls und machte dort meine ersten Gehversuche in die wissenschaftliche Welt. Knoll erweckte in mir die Sehnsucht, so wie er eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, er meinte nach einem Referat von mir, ich sei aus jenem Holz geschnitzt, aus dem man akademische Lehrer herstellt. Leider ist durch seinen allzu frühen Tod im Jahre 1963 die Verwirklichung meiner Absicht erst später und auf Umwegen und nicht mehr unter seiner Mitwirkung, wohl aber von seinem guten Geist begleitet, erfolgt. Ich war bei weitem nicht der einzige, dem er Förderung und Wohlwollen angedeihen ließ, er wollte die Ermunterung, die er von seinen Lehrern Othmar Spann und Hans Kelsen erfahren hatte, weitergeben.

Sein eigener Werdegang war ein steiniger. Nach der Habilitation 1933 hatte er nur wenige kurze Jahre Gelegenheit, an der Universität Wien zu lehren, denn 1938 wurde er, wie so viele andere auch, der Universität verwiesen und fristete mit seiner Familie ein kärgliches Dasein. Erst die Befreiung Österreichs 1945 machte den Weg auch für ihn frei, er vermochte seine geliebte Lehrtätigkeit zu entfalten und junge Menschen für das Fach, das er vertrat, aber auch für die Geisteswelt überhaupt, zu begeistern.

Religiös und sozial Knoll lehrte und vermittelte einen christlich begründeten Personalismus, der die falschen Extreme des Individualismus und des Totalismus vermied und den Blick auf den Menschen und die Gesellschaft freigab. Knolls sozialphilosophisches Credo, das auch ich weiterzutragen mich bemühe, lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen: "Der Einzelne ist über und in der Gesellschaft und da wie dort Substanz".

Knoll hat von Jugend auf um eine fruchtbare Verbindung religiöser Gedanken mit sozialen Anliegen gerungen. Er bekannte von sich selbst: "Schon im Gymnasium war mir die soziale Frage ein Begriff und Erlebnis. Die ersten Impulse kamen von Bebel und Marx. Ihr antireligiöser Affekt verdross mich, wie der antirevolutionäre in den christlich-sozialen und kirchlichen Kreisen".

Knoll war ein Grenzgänger und ein Wanderer zwischen verschiedenen geistigen Welten, in dem ich mich wiedererkannte, und der auch vielen anderen einen Anstoß zur Selbstverwirklichung gab.

Knoll war Religionssoziologe, der die Zusammenhänge zwischen Religion und Gesellschaft untersuchte, ohne die religiösen Inhalte auf das Soziale der umgebenden Gesellschaft zu reduzieren. In einigen geradezu klassischen Studien, wie der über das "Vaterbild in der Barocksoziologie" und über "Thomismus und Skotismus als Standesideologien" legte er dar, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Formung geistiger Inhalte maßgebend sind. Er wollte nicht, wie die Marxisten, das Geistige als Überbau auf das Materielle als Unterbau reduzieren, zum Unterschied von manchen kirchlichen Dogmatikern aber versuchte er, das Zeitgebundene der Präsentation auch ewiger Wahrheiten aufzuzeigen.

In dieser Hinsicht berührte sich Knolls Ansatz mit dem des großen Philosophen Max Scheler: auch Scheler unternahm nicht den Versuch, das Ewige allein aus dem Zeitlichen abzuleiten, wohl aber den Zusammenhang zwischen dem Zeitlichen und Ewigen herauszuarbeiten. Die materiellen und sonstigen gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugen das Geistige zwar nicht, aber sie entscheiden, unter welchen besonderen Aspekten es wahrgenommen und verarbeitet wird. Schon die Habilitationsschrift Knolls, die sich mit dem "Zinsproblem in der Scholastik" befasste, verwendete diesen wissenssoziologischen Ansatz, der dem Ewigen keinen Abbruch tut, sondern es mit der Zeitlichkeit konfrontiert und die Verschiedenheit der Zugänge zu einem Problem aus dem Umfeld ableitet.

Knoll war aber nicht nur ein glänzender Vortragender und wahrheitsliebender Forscher, sondern auch ein Christ, der sich nach seinen Kräften in das gesellschaftliche Leben einbrachte. So war er Mitbegründer des Instituts für Sozialpolitik und Sozialreform, das auch den Namen "Kummer-Institut" nach dem Politiker Karl Kummer trägt und den Namen Knolls verschweigt. Auch seine Initiative zur Errichtung einer Universität in Linz durch einen Brief an Landeshauptmann Dr. Gleißner, der bei diesem auf fruchtbaren Boden fiel, fand keine adäquate Würdigung, es war Knolls Schicksal, Samen auszustreuen, die andere für sich reklamierten und deren Früchte sie genossen. 1963, im Todesjahr, war Knoll auch Präsident des eben gegründeten Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes.

Vorgriff aufs Konzil Seine letzten Lebensjahre, die ich auf Sommerfrischen im salzburgischen Ort Seeham mit ihm durchleben durfte, ohne seinen frühen Tod zu ahnen, waren einer Auseinandersetzung mit dem scholastischen Naturrecht und seinen Auswirkungen in der kirchlichen Praxis gewidmet. Im Jahr vor seinem Tode erschien als Zusammenfassung schon vorher entwickelter Gedanken das Büchlein "Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit". Diese Arbeit, an deren Zustandekommen und Publikation ich Geburtshelferdienste leisten durfte, die freilich zu einer unfreiwilligen Todesbegleitung gerieten, erregte in kirchlichen Kreisen lebhaften Widerspruch, der seine sich dem Ende zu neigenden Tage verdüsterte. Zusammen mit Wilfried Daim und Friedrich Heer publizierte er einen Band "Kirche und Zukunft", der viele Forderungen des damals beginnenden Konzils vorwegnahm und Knoll auch als prophetische Persönlichkeit ausweist.

Manches von dem, was damals als revolutionär galt, ist in der Zwischenzeit zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Annäherung an die Gedankenwelt des Sozialismus, in rein ökonomischen Fragen, die Knoll vorhersagte, ist vor allem durch die Sozialenzykliken des jetzigen Papstes, aber auch schon vorher, bestätigt worden. Knoll war der Überzeugung, dass es nicht Aufgabe der Kirche sei, eine eigene Sozialordnung zu entwerfen, sondern sich auf dem Boden der jeweils herrschenden um eine Verchristlichung zu bemühen. Kurzfristig hielt Knoll die kirchliche Moral und das gepredigte Christentum für eine Stütze der jeweiligen sozialen Ordnung, langfristig aber wirkt das Christentum unterminierend auf ungerechte Verhältnisse, wie sich am Beispiel der Sklaverei, beziehungsweise deren Abschaffung zeigen lässt.

Seipels Privatsekretär Besonders aufschlussreich waren die Einblicke, die Knoll mir in vielen Gesprächen, die nur zum Teil veröffentlicht sind, wie übrigens auch sein umfangreiches Tagebuch, in die Gedankenwelt Ignaz Seipels gewährte: Knoll war Seipels Privatsekretär in dessen letztem Lebensjahr. Aus Knolls Erzählungen und den Tagebüchern Seipels lässt sich entnehmen, dass der Priester-Politiker in den späten Jahren von Zweifeln geplagt war, ob es richtig gewesen ist, die geistliche und die weltliche Funktion in einer, in seiner Person, gleichzeitig wahrzunehmen. Die katholische Kirche hat, nicht zuletzt aus den schlechten pastoralen Erfahrungen, die der Kurs Seipels hinterließ, schon 1933 die Konsequenz gezogen, die Priester aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, und sie ist auch nach dem Ende des Dritten Reiches zum Wohle von Kirche und Staat dabei geblieben.

August Maria Knoll lebt in seinem Werk weiter. Seine Mahnungen und Wegweisungen müssen auf die heutigen Verhältnisse angewandt werden, damit auch wir zu einer optimalen Kombination von Ewigkeit und Zeitlichkeit finden.

Der Autor ist Professor für Gesellschaftsphilosophie an der Universität Wien und Leiter des Ludwig-Botzmann-Institutes für neuere österreichische Geistesgeschichte.

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