Das Volk ist nicht dumm

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Die EU soll von der Schweiz lernen: Wie man ein schwieriges Referendum durchführt, und wie man damit trotz populistischer Gegenoffensive durchkommt.

Also, ihr Österreicher habt schon einen Haider-Schaden", hat mir vor ein paar Jahren der Leiter des Züricher Instituts für Direkte Demokratie, Andreas Gross, auf meine Bedenken geantwortet, Volksabstimmungen würden doch nur den Populisten in die Hände spielen. Gross argumentierte damals: Der Demagoge habe in einer direkten Demokratie viel weniger Chancen als in einer, in der nur alle vier Jahre gewählt wird, denn Demagogen behaupten, zu wissen, was das Volk will. In einer direkten Demokratie muss er aber alle paar Monate dafür den Tatbeweis antreten. Alle paar Monate sagt das Volk, was es wirklich will - und was der Populist für sich beansprucht, muss er in einer direkten Demokratie allen aktiven Bürgerinnen und Bürgern zugestehen.

Ganz überzeugen konnte Gross mich damals nicht - doch seit letztem Sonntag, seit dem Schweizer Schengen-Votum und der Abstimmung über homosexuelle Partnerschaften will ich meine Meinung ändern. Gross und die anderen Initiatoren dieser Plebiszite haben mir und vor allem der nach den Abstimmungsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden konzeptlos darniederliegenden Europäischen Union eindrucksvoll gezeigt: Volksabstimmungen zu vielschichtigen und komplizierten Themen müssen nicht automatisch im Sinne der Vereinfacher und Angstmacher und Aufhetzer ausgehen. Denn trotz einer sehr emotional, zeitweise sogar gehässig geführten "Freie Fahrt für Kriminelle"-Kampagne der Gegner stimmten knapp 55 Prozent der Schweizer für den Beitritt des Landes zum eu-Schengen-Abkommen. Und gar 58 Prozent der Eidgenossen sprachen sich dafür aus, dass Homosexuelle ihre Partnerschaft amtlich registrieren und damit als eine Lebensgemeinschaft mit gegenseitigen Rechten und Pflichten legitimieren dürfen - ein gesellschaftspolitisch mindestens ebenso heftig umstrittenes Thema wie die Aufhebung von Personenkontrollen an den Schweizer Grenzen.

Jetzt ist ganz klar, dass die Europäische Union nicht von einem Tag auf den anderen das 700 Jahre lang praktizierte Schweizer Modell übernehmen kann und soll. Vom bisherigen eu-Credo, "Die Sache des Volkes ist so wichtig, dass man sie nicht dem Volk überlassen darf", müssen sich die Politiker im Europäischen Rat, in der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament (für die gilt diese Kritik noch am wenigsten) aber schnellstens verabschieden.

"Europa eine Seele geben" lautete die bekannte Forderung des früheren eu-Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Ein schöner Spruch - der flutscht, aber was kann diese Seele sein? Andreas Gross hat in dem damaligen Gespräch auch gesagt: "Die Seele der Demokratie ist die Diskussion." Und wenn man jetzt Delors' Seele und Gross' Seele zusammendenkt, dann lautet die Forderung: Europa zur Diskussion stellen! und: Europa der Diskussion stellen!

Auf die im Nein zur europäischenVerfassung gipfelnde eu-Frustration gibt es nur eine Antwort: Die Europäische Union und ihre Verantwortlichen müssen in Zukunft viel mehr überzeugen und weniger befehlen. Demokratisierung heißt: eine feinere Verteilung von Macht. Demokratisierung heißt: Die Betroffenen entscheiden mit. Das "Friss oder stirb"-Modell hat ausgedient. Diskussion, Auseinandersetzung, Nachdenken über die eu muss das Von-oben-herab-Beglücken mit einer Union, die immer weniger haben wollen, ersetzen. Heutige Menschen sind im Alltag, im Beruf so gefordert, warum sollen sie sich in der Politik als Untertanen abspeisen lassen. An diese Bringschuld muss man die eu-Institutionen erinnern, darüber darf aber nicht die Holschuld vergessen werden, die von den eu-Bürgerinnen und -Bürgern einzulösen ist.

In der Schweiz lag die Wahlbeteiligung am letzten Wochenende bei 60 Prozent - für Schweizer Verhältnisse hoch, hat es geheißen. Und auch die rege Beteiligung an den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden hat gezeigt: Wenn man dem Wahlvolk eine Stimme gibt, und es geht um etwas Entscheidendes, dann wird davon Gebrauch gemacht. Früher habe ich daran gezweifelt. Heute glaube ich, was Andreas Gross mir im besagten Gespräch entgegnet hat: "Nur die Dummen glauben, die anderen seien noch dümmer."

wolfgang.machreich@furche.at

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