Schönes neues Europa

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Die größte Gefahr liegt in der Gleichgültigkeit einer hedonistischen Freizeitgesellschaft.

Wir sind Europa." Dieser Leitsatz wollte die Identifikation der Bürger mit der übernationalen Institution Europäische Union stärken. Wozu aber sind wir überhaupt Europa?

Ein Großteil unserer Gesetze wird auf eu-Ebene beschlossen. Um die europäischen Richtlinien in den Regionen wirksam werden zu lassen, braucht es rechtliche Formalisierung und technische Normierung. Wer seine Milch nicht nur auf dem örtlichen Bauernmarkt, sondern auch in Südspanien verkaufen will, muss sich diesen Regeln unterwerfen. Standardisierung (Macht) hat den Vorrang vor regionalen Ungleichheiten, ja Unregelbarkeiten (Ohnmacht). Die Nationalregierungen müssen diese Gesetze in den nationalen Kanon implementieren. Dabei stehen die Regierungen selbst in einem Macht-Ohnmacht-Gefälle. Was auf europäischer Ebene aufgrund eigener politischer Leichtgewichtigkeit (Ohnmacht) mühsam errungen oder vergeblich eingefordert wird, muss zu Hause kraft eigener politischer Legitimation (Macht) umgesetzt und so vorteilhaft wie möglich verkauft werden.

Die Akteure sind also nicht frei in ihrem Agieren, sondern abhängig von der so genannten "öffentlichen Meinung". Erschwerend kommt hinzu, dass Institutionen zunehmend an Bedeutung im Bewusstsein des Einzelnen verlieren. Liegt es nur an der Konzeptlosigkeit der Institutionen oder in der Sache selbst? Lassen sich politische Macht, technische Macht, Medienmacht, Wirtschaftsmacht, Informationsmacht nicht in ein übergeordnetes Ganzes integrieren, in dem Partikularinteressen im Blick auf das Gemeinwohlinteresse geregelt werden? In der Tat, der europäische Apparat mag Züge von Hobbes' Leviathan in sich tragen: Der Einzelne gibt seine Macht an ein technisch-bürokratisches System ab, dieses regelt die Beziehungen der Einzelnen untereinander. Der Haken daran: Menschliche Probleme und Macht-Ohnmacht-Beziehungen sind rein technisch-bürokratisch nicht lösbar.

Doch der europäische Leviathan ist nicht nur mächtig, sondern selbst zugleich auch ohnmächtig gegenüber seinen unartigen Kindern. Es könnte ihm widerfahren, dass einzelne Nationalstaaten die delegierte Macht wieder zurückhaben wollen oder ihre Macht gar nicht erst an die europäischen Zentralinstanzen delegieren. Die Rute des Ausstiegs wird immer wieder ins Fenster gestellt. Jede nationale Volksbefragung wird zur Zitterpartie.

Was wir auch von der Idee der europäischen Einigung halten, eines ist gewiss: Es geht nicht nur um die Wahl zwischen Identifikation mit der europäischen Idee und deren Ablehnung. Die eigentliche Gefahr liegt in der Gleichgültigkeit gegenüber der eu. Was interessiert, ist ein glückliches, gesundes Leben. Dagegen schwindet die Macht von Institutionen, die keine Gratifikationen auszuschütten vermögen (P. M. Zulehner), zunehmend. Im Alltagsbewusstsein bringt der europäische Apparat wenig. Lieber den iPod im Ohr als die eu-Bürgerschaft auf dem Papier.

Huxleys "schöne neue Welt" lässt grüßen. In ihr bedeutet Macht "Niemandsherrschaft". In ihr haben Institutionen kein Gesicht mehr, wenn überhaupt eine Chance. Das ist das mögliche Ende der Geschichte: das schöne neue Europa, in dem die eingeschläferten Sklaven sogar noch ihr Gesteuert-Sein bejahen (H. Büchele).

Ist diese Gefahr noch "fern von Europa"?

Der Autor, Jg. 1975, ist Lektor am Institut für Informatik der Universität Innsbruck und Pastoralassistent in einer Innsbrucker Pfarre.

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