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Konfusion in Bonn

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Das Tauziehen um die Nachfolge Eugen Gerstenmai ers als Bundestagspräsident hat eine bemerkenswerte Wandlung der deutschen Demokratie sichtbar werden lassen. Sie hat kein einheitliches und gefestigtes Selbstverständnis mehr. Nach dem Zusammenbruch 1945 war es ausgeprägt. Christdemokraten und Sozialdemokraten vermochten sich, abgesehen

von gesellschaftspolitischen Vorstellungen, meist rasch zu einigen. Inzwischen ist ein anderer Typ von Politikern herangewachsen. Er ist nicht so tief in der Ideologie und in politischen Programmen verwurzelt wie die vorhergehende Generation. Der Typ des Pragmatikers und des Managers rückt mehr und mehr in den Vordergrund.

Gerstenmaier und sein Vorgänger Hermann Ehlers waren Männer von großem geistigem Tiefgang. Was immer gegen Gerstenmaier vorgebracht wurde, es steht fest, daß er zum Selbstverständnis der CDU Entscheidendes beigetragen hat, das aus dem Gedankengut dieser Partei nicht mehr auszulöschen sein wird.

Bisher galt der Bundestagspräsident als der zweite Mann im Staate. Dieser Rang war zwar vom Anfang an umstritten, weil Adenauer ihn für sich beanspruchte. Mittlerweile haben sich Staatsrechtler gemeldet, die den Bundestagspräsidenten sogar auf den dritten, vierten oder fünften Rang verweisen. Adenauer bemerkte zu dem Problem einmal, das Volk wolle auch Würde haben. Gerstenmaier hat vierzehn Jahre nach diesem Grundsatz amtiert. Aber heute möchten einflußreiche Kreise andere Maßstäbe einführen. Das äußert sich zunächst in der Polemik: Gerstenmaier habe zu viele Reden gehalten, er habe zu viele Auslandsreisen und zu viele Safaris unternommen, um sein Amt habe er sich zu wenig gekümmert. Alle diese Vorwürfe sind nicht unberechtigt. Aber die Manager der Politik wollen daraus den Schluß gezogen wissen, ein ganz anderer Typ müsse nunmehr an der Spitze des Bundestages stehen.

Deshalb war in den Gesprächen über die Nachfolge Gerstenmaiers unter anderem zu hören, der künftige Präsident gehöre ausschließlich auf seinen Präsidentenstuhl, er müsse sich um die Geschäftsordnung und die Reform des Bundestages bemühen, er müsse dafür sorgen, daß die Abgeordneten ordentliche Zimmer und brauchbare Schreibkräfte erhalten.

Die Gegenkräfte führten dagegen an, gerade einer der ersten Männer im Staat müsse eine sehr profilierte Persönlichkeit sein. Er müsse Würde ausstrahlen, er müsse repräsentieren, er müsse freilich auch stark und initiativ genug sein, um die Parlamentsreform durchzuführen, nach der von allen Seiten gerufen wird. In der Tat ist diese dringend von-nöten. Denn der Bundestag verliert draußen im Land mehr und mehr an Ansehen. Fernsehen und Presse zeigen mit Vorliebe Szenen, in denen das Plenum des Parlaments nahezu unbesetzt ist. Das ist unstreitig auf die Lässigkeit der Abgeordneten zurückzuführen, aber auch darauf, daß ihre Hauptarbeit in den (nicht öffentlichen) Ausschüssen geleistet wird.

Aber in der öffentlichen Debatte hierüber klingen auch Töne an, die aufhorchen machten. So sprach eine führende Tageszeitung von „parlamentarischer Klempnerei“. Hier ist man schon von der Kritik an der Arbeit des Parlaments zur Verachtung dieser Arbeit vorgeschritten.

Es ist nicht abzusehen, ob sich diese Entwicklung wieder fangen wird. Vorläufig steht beides nebeneinander, in gewissem Maße auch bei der Auswahl der Kandidaten der Union und der SPD für das Amt des Bundespräsidenten, der am 5. März in Berlin gewählt wird. Gerhard Schröder, der Kandidat der Union, ist ein Mann mit konservativen Zügen und starkem Sinn für die Würde des Staates. Er hat auch zur politischen und geistigen Entwicklung in der Bundesrepublik manches zu sagen gehabt.

Auf der Gegenseite Gustav Heinemann, der Kandidat der SPD: Er war erst bei der CDU und dann Gründer der Gesamtdeutschen Volkspartei. Ein Mann von großer geistiger Potenz und geschliffener Ausdrucksweise, hat er zum Staat und seiner Repräsentanz nur ein betont mäßiges Verhältnis.. Da stimmt gar nicht so recht mit der mehrheitlichen Haltung der SPD überein. Aber sie hat dennoch Heinemann auf ihren Schüd gehoben. Das Leitbild für Staat und Demokratie wartet noch darauf, wieder gültig formuliert und — allseits respektiert zu werden.

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