DDR, PDS und "Ostalgie"

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dieFurche: Herr Kunze, im achten Jahr der deutschen Einheit scheint die Wirklichkeit der untergegangenen DDR bei den meisten Menschen verblaßt. Worin sehen Sie das Wesen dieses Staates?

Reiner Kunze: In seinem Wesen war dieser Staat eine totalitäre Diktatur. Eine Diktatur, weil die öffentliche Gewalt in den Händen einer Personengruppe lag, also in den Händen der Partei, genauer des Politbüros, das von Moskaus Gnaden war; und totalitär, weil von diesem Machtzentrum aus Staat, Gesellschaft und Individuen unter Anwendung von Zwang einer alle Daseinsbereiche erfassenden Ideologie unterworfen wurden und das gesamte Leben bis in die privaten Bereiche des einzelnen hinein unter Kontrolle des Staatssicherheitsdienstes stand.

dieFurche: Ministerpräsident Reinhard Höppner von Sachsen-Anhalt und mit ihm führende Sozialdemokraten in anderen Ländern halten die maßgebliche DDR-Regierungspartei, die sich heute PDS nennt, für reif, in den Bundesländern mitzuregieren. Auch der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker denkt so.

Kunze: Im Programm der PDS heißt es: "In der PDS haben sowohl Menschen Platz, die der kapitalistischen Gesellschaft Widerstand entgegensetzen wollen und die gegebenen Verhältnisse fundamental ablehnen, als auch jene, die ihren Widerstand damit verbinden, die gegebenen Verhältnisse positiv zu verändern und schrittweise zu überwinden." Und es heißt weiter, daß die PDS zwar um parlamentarischen Einfluß ringe, aber den "außerparlamentarischen Kampf um gesellschaftliche Veränderungen für entscheidend" halte. Wegen dieser Zielsetzung möchte ich nicht, daß die PDS mitregiert. Gregor Gysi sagte vergangenes Jahr auf dem Schweriner Parteitag: "Wir wollen Teil dieser Gesellschaft sein, um sie dann grundlegend verändern zu können." Da kann ich nur sagen: danke, nein, nicht noch einmal!

dieFurche: Politiker aus den neuen Ländern weisen darauf hin, daß sich PDS-Mitglieder vielerorts der Probleme der Menschen annehmen ...

Kunze: Ich kann vor dieser Partei nur warnen, denn ihre Taktik heißt Unterwanderung. Unterwanderung gehört zum politischen Erbe, auf das sich die PDS beruft. Um die "sogenannten Gebildeten in Westeuropa und Amerika ... zu beschwichtigen", entwarf bereits Lenin in einem Brief an Georgij Tschitscherin ein Szenario der Täuschung und Heimtücke. Ich kann die PDS letztlich nicht danach beurteilen, was manche ihrer Mitglieder heute im politischen Alltag an Annerkennenswertem leisten - eine Partei wie diese muß nach ihren strategischen Zielen beurteilt werden, und wer glaubt, sie würde, bindet man sie nur ein ins gesellschaftliche Leben, diese Ziele aus den Augen verlieren, der ist von ihr schon eingebunden.

dieFurche: Wie erklären Sie sich den Erfolg der rechtsextremen DVU gerade bei jungen Menschen?

Kunze: Ich komme mit ziemlich vielen jungen Menschen zusammen, aber nicht mit solchen, die DVU wählen, und deshalb weiß ich nicht, woher deren Erfolg rührt. Wählen in ihnen nicht die Eltern? Oder sind sie von denen, die für sie Verantwortung tragen, allein gelassen worden?

Kann man als junger Mensch nach einem Rundblick in der etablierten politischen Arena nicht zu resignativen Schlüssen kommen? Ist das vielleicht der Boden für die DVU? Und möglicherweise auch für die PDS?

dieFurche: In den neuen Ländern machte sich schon kurz nach der Einheit ein Gefühl breit, das man als "Ostalgie" bezeichnet hat, als Sehnsucht zumindest nach Teilen der alten DDR-Zeit. Verstehen Sie das, haben Sie selbst nach Ihrer Ausreise 1977 so etwas gespürt?

Kunze: Weder damals, noch heute. Man muß die jeweilige Biographie kennen, wenn man verstehen will, woher dieses Gefühl kommt. Man muß wissen, ob einer an diesem System fast erstickt ist, oder ob er seinen Frieden mit ihm gemacht hatte, da es für ihn dachte und entschied.

dieFurche: Als es die DDR noch gab, haben Sie einmal von den Westdeutschen gesagt: "Sie wissen nicht, was sie haben." Würden Sie das heute auch von den "Ostalgikern" in den neuen Ländern sagen?

Kunze: In mancher Beziehung ja. Konrad Weiß schreibt: "Am bedenklichsten halte ich, wie wenig von vielen in Ostdeutschland die Erlangung von Freiheit und Menschenrechten gewürdigt wird, und wie sehr Demokratie und Parlamentarismus mißachtet werden." Wenn dem so ist, ist das bitter. Und was das Materielle betrifft, so denke ich vor allem dann, "sie wissen nicht, was sie haben", wenn ich aus Rumänien oder Bulgarien, aus Litauen oder Usbekistan zurückkehre. In diese Länder fließen nicht Hunderte Milliarden DM zum Ausbau der Infrastruktur, zur Sanierung der Umwelt usw. Das schließt aber nicht aus, daß ich mit unseren Freunden in Thüringen oder Sachsen bestimmte politische Umstände und Entwicklungen beklage.

dieFurche: Welche zum Beispiel?

Kunze: Bestimmte Betriebe sind von der westdeutschen Industrie nur gekauft worden, um sie stillzulegen.

dieFurche: Was ist in West und Ost zu tun, damit keine neue, keine geistige Mauer entsteht?

Kunze: Sich bemühen, einander aus dem jeweils gelebten Leben heraus zu verstehen. Das allerdings setzt Ehrlichkeit voraus und damit ist es leider nicht weit her. Aber so oder so - erst wenn meine Generation und vielleicht noch eine Generation gestorben sein werden, wird es wieder Gesamtdeutsche geben. Bis dahin bedarf es der Geduld.

Reiner Kunze, geb. 1933, Studium der Philosphie und Journalistik in Leipzig, zunächst wissenschaftliche Laufbahn, geriet bald in Konflikt mit dem politischen System, Entlassung 1959, seit 1962 als Schriftsteller tätig, 1977 Ausreise aus der DDR.

Das Gespräch führte Michael Ragg, freier Mitarbeiter des "Rheinischen Merkur".

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