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Weltmacht Landvolk

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In diesen Tagen findet in Wien der größte Agrarkongreß der Nachkriegszeit statt, die X. Generalversammlung des Verbandes der europäischen Landwirtschaft.

Die Bedeutung dieser Tagung wird durch zwei Tatsachen unterstrichen. Zum ersten: Diese von den Vereinten Nationen anerkannte Organisation umfaßt rund fünfhundert nationale Organisationen aus 21 europäischen, nordafrikanischen und vorderasiatischen Staaten. In Oesterreich gehören ihr Organisationen mit mehr als einer Million Einzelmitgliedern an.

Zum zweiten: Die schicksalsschweren Ereignisse unseres Zeitalters, die russische und chinesische Revolution, sind agrarische Revolutionen, entstanden, weil es nicht gelang, hunderte Millionen Bauern zu Vollbürgern der menschlichen Gesellschaft zu machen, weil das größte Werk auf Erden, die Versöhnung des Mengchen mit der „Mutter Erde“ (wie die Chinesen sagen), mißlang. Asien fällt dem Kommunismus anheim, wenn die Agrarfrage nicht gelöst werden kann; das ist nicht zuletzt der erregende Sinn der Landreformbewegung im Indien Nehrus und des Vinoba Bhave. Und Europa, die weiße und freie Welt, müßte der inneren Verdorrung, der Austrocknung der Geister, der Kultur, dem ideologischen, ebenso unverbindlichen wie anmaßenden Geschwätz verfallen, wenn es nicht gelingt, • zwischen Oberbau und Unterbau neue tragfähige Kommunikationen herzustellen: zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen der politischen und kulturellen verantwortlichen Intelligenz und jenen breiten Schichten des Landvolkes, deren Arbeit an der Erde das Leben trägt.

Wir nehmen also keine „großen Worte“ in den Mund, wenn wir von der weltpolitischen, europäischen und freiheitlichen Bedeutung dieses Wiener Kongresses vom September 195 8 sprechen.

Der Bauer ist als Politiker der geborene Realist. Das harte Geschäft, die schwere und immer sorgenreiche Arbeit an der Erde zwingt ihn, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen. Politiker aus dem Landvolk zeichnen sich seit jeher durch ihren Wirklichkeitssinn, durch ihre Vorliebe für die klare, kurze Rede, durch ein schnelles Verständnis für das, was not tut, aus. Früher als andere erfassen sie größere Zusammenhänge, tragen ihnen Rechnung. Früh haben sie erkannt, daß nur Zusammenarbeit, Solidarität, Erfolg bringt, Anerkennung bei Menschen anderer Berufe, Interessen, Arbeitskreise.

Man klagt oft landauf, landab über den Gruppenegoismus der Landwirtschaft; der europäische Reisende kann diese Klagen in der Schweiz, in Frankreich, in Deutschland und natürlich auch hierzulande tagtäglich hören.

Diese Klagen und Anklagen vergessen zweierlei: Es ist natürlich und selbstverständlich, daß ein Stand, der über ein Jahrtausend — die vielen bäuerlichen Erhebungen in Europa vom 9. Jahrhundert herauf bezeugen das ebenso wie die Bauernkriege im 16. und 17. Jahrhundert — in oft schwerer, bedrängter Lage war, sich irh Bewußtsein seiner Kraft auf seine Rechte und seine Macht besinnt. Jedermann, selbst Reaktionäre, scheuen heute zurück, vom Gruppenegoismus der Arbeiterschaft zu sprechen und etwa die Gewerkschaften als Vorkämpfer eines solchen ..unverschämten Egoismus“ anzuklagen. Diese selbst sind wiederum äußerst vorsichtig im Umgang mit den Unternehmern, verzichten zugunsten ruhiger, sachlicher Auseinandersetzungen darauf, das alte Bild vom „bösen Kapitalisten“ an die Wand zu malen. Man kommt nicht weit, wenn man dem „G'scherten“ (dem lange Zeit Unfreien, dem die Haare des freien adeligen Mannes weggeschnitten waren) seinen Gruppenegoismus vorwirft, dieweil andere Stände in ihrem Gruppenegoismus verharren.

Tiefer in das Problem führt die Erkenntnis: Es besteht in unserer heutigen industriellen und modernen Gesellschaft eine tiefgehende innere Kontaktlosigkeit zwischen Landvolk und moderner Welt; eine Kontaktlosigkeit, die hüben und drüben zu manchen Taktlosigkeiten geführt hat und “die auch nicht einfach dadurch behoben wird, daß etwa „schöne Reden“ gehalten werden und anderseits das Landvolk sich überstürzt mit Eisschränken, Fernsehgeräten, Automobilen und anderen industriellen Kulteräten der Moderne Haus, Hof und Scheune, zunächst in den ersten Nachkriegsjahren, vollgestopft hat, in einzelnen Gebieten, in denen zunächst seine Währung allein galt: Butter und Fleisch, Eier und Brot...

Die X. Generalversammlung der europäischen Landwirtschaft ist dem ersten Grundlagenproblem gewidmet: „Die Landwirtschaft im industrialisierten Staat“, und es bezeugt den nüchternen realistischen Sinn unserer Agrarier, daß sie einen der führenden Industriellen des Westens, den Westdeutschen Fritz Berg, mit dem Hauptreferat betraut haben.

Die Intensivierung der Beziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft schließt eine Fülle von politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und mentalen Problemen in sich ein, Es geht da ja nicht nur um Marktfragen, Preisfragen, Außenhandel, Zölle, gemeineuropäischen Markt, „Grünen Plan“, um die Industrialisierung des Landes und um eine „bessere Zusammenarbeit“ zwischen Industrie und Landwirtschaft. Es geht um weit mehr: um eine auf weite Sicht abzustimmende schöpferische Zusammenarbeit der beiden Tragpfeiler der Gesellschaft: des Landvolkes und der Industrie; es geht um eine loyale Partnerschaft der Millionen Menschen, die in der Landwirtschaft, und der Millionen Menschen, die in der Industrie tätig sind; diese Partnerschaft muß durch die konstruktive Arbeit der führenden Gruppen und Einzelpersönlichkeiten in beiden Schichten vorbereitet, ermöglicht werden.

Warnendes Mahnmal: die immer noch weiterschreitenden Erhebungen in Nah- und Fernost, die Aufstände des verelendeten, proletarisierten Landvolkes in Asfen, Afrika, Südamerika *- d i e überwiegende Mehrzahl des Weltproletariats ist Proletariat des Landvolkes, nicht der Stadt! — zeigen, daß hier d i e Freiheit auf dem Spiele steht.

Volksdemokratien und, politische Gebilde, wie etwa die „Deutsche Demokratische Republik“, nennen sich bedeutungsvoll-„Staat der Arbeiter und Bauern“, wobei für uns, in der freien Welt, ebenso wichtig ist die Erkenntnis, daß daselbst Arbeiter und Bauern unterdrückt, versklavt werden, wie die andere Erkenntnis, daß man daselbst sehr genau weiß, daß die Zukunft dem gehört, der wirklich, in der Wirklichkeit der Freiheit, eines gelebten Lebens. Arbeiterschaft, industrielle Welt und Landvolk versöhnen wird.

Es ist kein Zufall, daß das Land europäischer Mitte, in dem seit den Bauernkriegen der frühen Neuzeit, in den Kämpfen des Bismarck-Staates und nicht zuletzt in den Kämpfen der Weimarer Republik die politische Bedeutung der Lösung der „Agrarfrage“ schmerzlich-klar erfahren wurde, Deutschland, führende europäische Agrarpölitiker hervorgebracht hat, an der Spitze den Nestor, den Präsidenten des europäischen Verbandes, Reichsminister a. D. DDr. Andreas Hermes, neben dem auch der westdeutsche Landwirtschaftsminister Lübke am Wiener Kongreß teilnimmt.

Der Wiener Kongreß wird seine Ergebnisse in einer „Magna Charta der europäischen Landwirtschaft“ zusammenfassen. Wenn es gelingt, diese in .die Wirklichkeit umzusetzen, wird eine Grundlage geschaffen für eine politische und gesellschaftliche Stabilität, welche die freie Welt im Inneren dringend braucht, um in großer Ruhe und mit jener Geduld, die dem Politiker aus dem Landvolk seit je eigen ist, sich mit den Stürmen und Weltgewitten unserer Zeit auseinanderzusetzen; im Vertrauen, daß diese ebenso überwunden werden können wie die Gewitter und Stürme, denen seit Jahrtausenden das Land und sein Volk, das Landvolk, ausgesetzt sind. Und die überwunden werden, wie eben nicht zuletzt jetzt in Wien diese machtvolle Heerschau des freien, seiner Freiheit und Macht bewußten europäischen Landvolkes zeigt.

Wenn es gelingt, diese Freiheit und diese Macht in der größeren Freiheit und Macht der freien Welt voll und ganz zu integrieren, dann darf uns um beider Zukunft nicht bange sein. Dann wird der vielgefürchtete, beklagte — und beneidete Gruppenegoismus der Landwirtschaft und des Landvolkes seine großen und dynamischen Kräfte in den Dienst der gemeinsamen Sache stellen: der Freiheit unserer Gesellschaft, die auf Gedeih und Verderb gebunden ist an ein gutes, lebendiges Funktionieren ihres Ueber-baues und Unterbaues; der Kräfte, die das Land bebauen, und der Kräfte, welche die Materie bewältigen und verwandeln. Wobei ein enges Wechselverhältnis besteht: ohne Hilfe und Mitarbeit der Industrie und der Intelligenz sind Land und Landleute dem Druck der industrialisierten Gesellschaft nicht gewachsen, und umgekehrt gilt: Die Industrie verfällt krebsartigen Wucherungen, und die Kultur löst sich in museale Spiele auf, wenn nicht beide, Industrie und Intelligenz, auf jene Rücksicht nehmen und sie in ihr tägliches Planen und Arbeiten einbeziehen, denen die Pflege und Hütung der Erde in erster Linie anvertraut ist: auf das freie Landvolk.

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