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Alteuropas adeliger Kosmos

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Es geschieht heute nur mehr selten, daß im Wust der täglich auf den Markt geworfenen literarischen und wissenschaftlichen Publikationen ein Werk aufscheint, das beanspruchen darf, den Gesichtskreis jener, die um Europas innere Geschichte und Sinn- deutung wissen und dies als ein ihnen wesentliches Anliegen betrachten, bedeutend zu erweitern. Ein solcher Fall liegt nun vor.

Soeben erschien im Otto-Müller-Verlag, Salzburg, Otto Brunners „Adeliges Landleben und europäischer Geist — Leben und Werk Wolf Helm- hards von Hohberg 1612—1688.“

Dieses Werk des bekannten Wiener Historikers stellt einen so bedeutenden Fortschritt der Geschichtsforschung dar, es sichert der „Wiener Schule“ der Geschichtswissenschaft einen solchen Vorsprung im einschlägigen Schrifttum des gesamten deutschsprachigen Raumes, daß hier nur einzelne Aspekte des auf 340 Seiten zusammengedrängten, zusammengekneteten Stoffes behandelt werden können. Fußend auf langjährigen archivali- schen Studien, die ihren Niederschlag in Brunners bisherigem Hauptwerk „Land und Herrschaft“ sowie in zahlreichen kleineren Publikationen fanden, erläutert der Verfasser am Leben und literarischen Werk eines durchschnittlich begabten, politisch unbedeutenden kleinen protestantischen Landedelmannes in Niederösterreich, den bisher nur „der Literaturhistoriker als barocken Epiker und die Agrargeschichte als landwirtschaftlichen Schriftsteller“ kannte, eines der bedeutendsten Phänomene der Geschichte „Alteuropas“, das bisher in dieser Komplexität und nahtlosen Verwobenheit scheinbar oft disparater Sachbezüge überhaupt noch nicht gesehen wurde: die Struktur und innere Geschichte jener Adelswelt, die Gestalt und Gesicht Europas von Homer und Hesiod bis zum 18. Jahrhundert politisch, gesellschaftlich, geistig und religiös entscheidend (mit-) geprägt hat. Es ist das Leben, das konkrete Leben in einer festumrissenen adeligen Ge- selilchaft von „Herren“, die eine „Herrschaft“, die „Land und Leute“ besitzen, welches den Rechts- und Wirtschaftsstil, Erziehung, Denken und Fühlen, politische Ideologien und menschen formen de Ideale, zeit- verpflichtetes Handeln und scheinbar zeitloses Dichten und Sagen gleichermaßen ausformit; sehr strengen Gesetzen folgend, die in der Amalgamierung von antiken und christlichen Leitbildern wurzeln und eine erstaunliche Prägkraft entfalten. Die Ritter des 12. Jahrhunderts, die Adelsherren des Spätmittelalters, die „nationaltypischen“ Charaktere des italienischen cortegiano, des franzö- schen honnete homme, des (frühen) englischen gentleman, ja sogar noch, wenn auch mitten in der Krisis, im Kampf gegen die „industrielle Gesellschaft“ stehend, einzelner führender Adelisherren des 19. Jahrhunderts, erweisen an den Zeugnissen ihrer Taten und Werke, das sie ihr Leben bewußt und unbewußt ausgerichtet wissen durch ein Koordinatensystem, das jeden Wirkungs- und Schaffensbereich erfaßt und sich einordnet, weil es eine zweitausendjährige unerschütterliche Achse besitzt: den ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Selbststand des Adelsherren, der in seiner „Herrschaft“ seine Beziehungen zu Mensch und Gott, Natur und Wirtschaft, Ethos und Praxis, Kunst und Wissenschaft ordnet, regelt, in der Statik eines „Tugendsystems“, eines festgenormten Menschenbildes umgreift. Brunner gelingt es nun, in seinem Hohberg-Buch zu wirklich neuen Einsichten vorzustoßen, weil er eine Forschungsmethode anwendet, die schlechthin alles vorbildlich angesehen werden darf. Er läßt sich als Forscher zunächst einzig und allein von der Realität seiner historischen Quellen einfordern. Während fast alle Staats-, Wirtschafts- und Kulturhistoriker und zumal auch die „Geisteswissenschaftler“ der letzten hundert Jahre mit dem vorgeknüpften Netz ihrer Meinungen, mit den Systemen ihrer, der Ideenwelt und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstammenden wissenschaftlichen Begriffen auf die Jagd nach ,historischem Material“ ausgehen und „Belege“ für ihre Ideen suchen und, ohne Rücksicht auf die konkrete Verhaftung jeder historischen „Quelle“ im Gesamtzusammenhang einer Epoche, sich kleine und größere Fische zu erangeln streben, geht es unserem Autor primär um etwas ganz anderes: um das Erspüren der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit eines historischen Sacbbestandes. Brunner läßt nicht die Soziologen und Wirtschaftshistoriker, die Geisteswissenschaftler und Professoren des 19./20. Jahrhunderts über seinen Landedelmann des 17. Jahrhunderts zu Gericht sitzen, sondern eher umgekehrt. Das Ganz-anders-sein dieser Adelswelt, die nicht als „Quellenmaterial“, sondern als ein lückenlos in sich geschlossener Kosmos verstanden wird, erweist die Nichtzuständigkeit der „modernen“ Wissenschaftsbegriffe, die dem Wertungssystem und Gesichtsraum der „industriellen Gesellschaft“ verhaftet sind. Dies also ist sein Erstes: umfassende Kritik, ja Destruktion der Werkzeuge, die die moderne Forschung zur Zergliederung des historischen Materials anbietet. Brunner zeigt eindeutig auf, daß dergestalt nur ein Sezieren möglich ist, das die innere Verbundenheit, das Nervensystem, den Total- zusammenhaAg des zu untersuchenden Organismus zerstört! Diese mitunter sehr mühselige Ablösung von Thesen und Normierungen, von der Sprache und den Gesichtspunkten der bisherigen Forschung bringt nun als Lohn reichste Frucht ein. Befreit von ihren widernatürlichen Klammern, entfaltet nun, sozusagen immanent, der historische Gegenstand, nicht mehr als solcher, sondern als eigenständige _ Welt begriffen, eine überschäumende Lebenskraft — und zeigt selbst die Kraftlinien und -ströme auf, innerhalb derer er sich bewegt, lebt. Wolf Helm- hard von Hohbergs Leben und Werk entfaltet sich also zu einer großartigen Aussage über „Ethos und Bildungswelt des europäischen Adels“ — in einem Kapitel, das von Homer zur höfischen Kultur des 13. Jahrhunderts, zu Dante, ‘Petrarca und zur Zersetzung dieser Welt hei Machiavelli, Bodin, Gracian, zuletzt im französischen und englischen Park des 18. Jahrhunderts führt… Entfaltet sich weiter in einer Reise durch das „Geistesleben des niederösterreichischen Adels“ in Spätmittelalter, Reformation und Frühbarock, einer Reise, deren Gesichtspunkte einer längst fälligen Erneuerung unserer germanistischen Forschung von größtem Nutzen sein werden. Im zweiten Hauptteil seiner Arbeit erörtert der Wirtschaftshistoriker Brunner an den Exempla der Hohbergschen literarischen Werke die „Ökonomie“, den Wirtschaftsstil und die Wirtschaftsgesinnung dieser Adelswelt, die in ihrer Einheit des Sippe, Gesellschaft, Mensch, Natur und Gott umfangenden „Flauses“ von den Wirtschaftstheorien und ökonomischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts überhaupt nicht verstanden werden kann. Mit einem sehr anregenden besinnlichen Kapitel über den „Untergang der Adelswelt“ schließt dieses Werk, das als ein Mark- und Merkstein wirklich neuer österreichischer Historiographie angesehen werden muß.

Alls Notiz hier nur noch ein Vermerk über einige von Brunner behauptete, beziehungsweise angezogene Phänomene, über die die fachwissenchaftliche Diskussion möglichst bald eröffnet werden sollte. Tritt nicht neben die mit Recht betonte Einheit der Adelswelt Alteuropas immer wieder auch eine innere Differenzierung, Aufgliederung und Aufspaltung, die unter anderem den europäischen Adel im politischen, soziologischen und zumal religiösen und geistigen Sektor gleichzeitig zum Stammhalter aller europäischen Konservationen,- Restaurationen und Revolutionen macht? Läßt sich das an sich von Brunner mit Recht historisch und begriffstheoretisch kritisierte „Bürgertum“ und das „Bürgerliche“ wirklich so sehr abtun und in wenig bedeutende Randzonen des innereuropäischen Geschehens abdrängen? Sind nicht vielleicht, wie wir an anderer Stelle aufzuzeigen suchen („Aufgang des Abendlandes“, 1. Band), „bürgerliche“ Elemente bereits seit dem 12. Jahrhundert auf breiter Front in die innere Welt des Adels eingebrochen und haben ihn in Gotik, Scholastik, Mystik, devotio moderno, in allen spiri- tualistischen Bewegungen zu hochbedeutenden Erweichungen, Verformungen und Strukturänderungen gezwungen? In diesem Zusammenhang wäre auch einzugehen auf die Tatsache, daß vom 8. bis 18. Jahrhundert der höhere und hohe Klerus in Lebensstil, Lebenshaltung und Frömmigkeit durchaus eine Welt mit seinen in der Welt lebenden Vettern bildet. Damit aber stehen wir bereits an der Schwelle des vielleicht erregendsten Problems. Brunner behauptet (a. a. O. S. 65), durchaus im Sinne der traditionellen Ansichten der Geschichtswissenschaft, daß „die Tendenz zur Verweltlichung, Säkularisierung, Rationa/lisiierung, die das neuere Europa kennzeichnet“,’ der seit 1100 entstehenden christlichen L a i e n k u 11 u r, die sich der christlichen Klerikerkultur zur Seite stellt, ihre Genesis und Entstehung verdanke. Wir leugnen nun keineswegs den naturgegebenen Zusammenhang, glauben aber, daß gerade die Klerikerkultur selbst mit jenem spezifischen, in ihrem Schoße seit dem 12. Jahrhundert entwickelten rationalistischen, „materialistischen“, einflächig-linearen Denken, im Zusammenhang mit dem Lebensstil des Hoch- und Niederklerus, mit der rational-ökonomischen Durchformung der päpstliche’’. Finanz- und Verwaltungsbehörden primär jene „Verweltlichung“ initiiert und einleitet, die das Signum der neueren Jahrhunderte Europas ist. Dies aber ist eine Fragestellung, die weit über Raum und Möglichkeiten dieser Buchanzeige hinausführt.

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