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Das klassische Naturrecht

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Es ist ein begrüßenswertes Beginnen, daß eine Anzahl namhafter Gelehrter sich im Springer-Verlag zusammengefunden hat, um den derzeitigen Mangel an juristischen Lehrbüchern durch Herausgabe einführender Grundrisse aus den Hauptgebieten der Rechts- und Staatswissenschaften zu beheben. Dabei ist es für unsere Zeit charakteristisch, daß gleich der erste Grundriß (Dr. Alfred Verdroß-Droßberg, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie) einem rechtsphilosophischen Thema gewidmet ist. Ist doch heute das Sehnen nach einer metaphysischen Grundlegung des Rechts allmächtig geworden, nachdem die Entwicklung der jüngsten Zeit der leidenden Menschheit endlich die Augen geöffnet hat, daß eine Rechtsordnung ohne Metaphysik nicht bestehen kann und daß jedes Recht, das nicht in der Gerechtigkeit gegründet ist, früher oder später in Gewalttätigkeit und Willkür untergehen muß.

Es bedarf heute mehr denn je einer Verankerung des Rechts in den ehrwürdigen Traditionen der abendländischen Rechtsphilosophie, die von den Griechen ihren Ausgang nahm und über die Stoa und Augustinus zu Thomas von Aquin und schließlich zu den NaturrechtsPhilosophen der Neuzeit führte. In diesem Zusammenhange stellt der eben erschienene Grundriß der antiken Rechtsphilosophie nicht nur eine etwa bloß historische Arbeit dar, sondern offenbart sich als Werk höchster Aktualität; denn es ist ein Baustein für den Neuaufbau unserer Rechtsordnung auf metaphysischer Grundlage.

Wir wissen heute, daß alle juristischen Experimente des 19. Jahrhunderts, daß Historismus, Relativismus und Positivismus nur klägliche Notbehelfe einer halt- und glaubenslosen Epoche waren, welche der nach dem wahren Recht dürstenden Menschheit nicht die Erlösung zu bringen vermochten. Denn unausrottbar lebt in der menschlichen Seele die ewige Forderung, daß das Recht in der Sittlichkeit begründet, daß es gerecht sein muß, wenn es den Namen Recht in Ehren tragen und nicht zu einem bloß formalen Scheinrecht herabsinken soll. Dieser Forderung wird in vollem Maße bloß die Idee des Naturrechts gerecht, dessen ewige Sendung darin beruht, das Recht stets von neuem mit dem Geiste der Gerechtigkeit zu erfüllen; und darum muß es immer wiederkehren und kehrt auch in der Tat immer wieder, sooft ein inhaltslos gewordenes Recht nach der Begründung seiner selbst sucht.

Wie alle wahrhaft befreienden Gedanken, welche die eigentliche Größe des abendländischen Geistes ausmachen, leuchtet die Idee des Naturrechts zuerst bei den Griechen auf.

Bereits Heraklit (um 500 vor Christi) erblickte im natürlichen Geschehen, im ewigen Flusse aller Dinge das Walten einer ordnenden Vernunft, dem sich das sittliche Sein und Handeln der Menschen unterzuordnen habe. Er erkannte in den menschlichen Gesetzen bei all ihrer Zufälligkeit und Verschiedenheit die Idee eines ewigen natürlichen Rechtes, von dem alle menschlichen Rechtsnormen ihre Kraft haben.

Nach dem Vorbild Heraklits stellte dann auch Plato das wahre, richtige Gesetz dem positiven gegenüber. Dieses wahre Recht lebt im Geiste der Ideen, sich ewig gleichbleibend, während die positiven Gesetze sich ändern und nur soweit Geltung verlangen dürfen, als sie an der Idee des Gesetzes teilhaben. Die Idee des Rechts, die Gerechtigkeit aber bildet den Maßstab für die Güte der positiven Gesetze; deshalb muß auch der wahre Gesetzgeber stets zum Reich der Ideen hinaufblicken und nach dessen Ebenbild die Normen des positiven Rechts gestalten. Denn die Welt der Ideen ist das Muster für die Gestaltung des sittlichen und rechtlichen Lebens des Staates.

Gleich Plato erfaßte auch Aristoteles die wechselseitige Beziehung zwischen natürlichem und positivem Recht. Doch lebt bei ihm das natürliche Gesetz nicht jenseits des gesetzten Rechts, sondern in demselben. Im sich verändernden positiven Gesetz lebt die unveränderliche Rechtsidee und alles positive Recht ist der mehr oder minder geglückte Versuch, das Naturrecht zu verwirklichen. So wird der Gegensatz von Natur- und positivem Recht jeweils im Rechte selbst bewahrt und zugleich aufgehoben. Darin liegt das große Verdienst des Aristoteles, daß er die Einheit in der Metaphysik des Recht- gelehrt und so der Naturreditslehre seine systematische Struktur verliehen hat, für welche Tat die Nachwelt ihm den Ehrentitel eines „Vaters des Naturrechts“ erteilte.

Tatsächlich wird die Lehre des Aristoteles für die richtige Erkenntnis dessen, was wirklich Naturrecht ist, stets die Grundlage bilden; beweist sie doch auch eindeutig die Unrichtigkeit des von der rechtshistorischen Schule und dem Rechtspositivismus immer wieder erhobenen Vorwurfes, daß das Naturrecht die Irrlehre eines für alle Völker und Zeiten gleich verbindlichen Rechts verkünde. Naturrecht bedeutet aber in Wahrheit die unveränderliche Idee, das letzte Ziel des Rechts, das sich in jedem positiven Gesetz zu verwirklichen hat und auch tatsächlich verwirklicht.

Diesen naturrechtlichen Grundgedanken vertrat auch jene geistige Bewegung, die in den Zeiten des kulturellen Zusammenbruches am Ausgange des Altertums noch ein letztes Mal die gesamte Weisheit der Antike in großer Sichtung zusammenfaßte. Dies war die stoische Schule, nach deren Lehre der Mensch angeborene Ideen von Recht und Unrecht hat, welche die unabänderliche Grundlage der Rechtsordnung darstellen. Denn die göttliche Vernunft selbst ist der Gesetzgeber und bildet den Maßstab jeder positiven Satzung.

Die Naturrechtslehre des Altertums hat — was in dem besprochenen Grundriß allerdings nicht mehr zum Ausdruck kommt — mit dem Ende der Antike jedoch keineswegs ihren Abschluß gefunden. So erwies sich insbesondere die Lehre der Stoa den Kirchenvätern als wertvolle Stütze bei der Verkündigung der Lehre von Gott als dem Urheber des ewigen Gesetzes. Vor allem in Augustinus, dem unzweifelhaft erhabensten Geiste des sterbenden Altertums, lebten noch einmal die Ideen der antiken Philosophie auf, allerdings n neuer, christlicher Gestaltung. So formte er die Ideen Piatons zu Gedanken Gottes um und verkörperte die unpersönliche Weltvernunft der Stoiker in der Person des allweisen und allmächtigen Gottes, der die Welt nach seinem ewigen Gesetz regiert. Gott und die höchste Vernunft sind eina und auch der Mensch hat an dieser göttlichen Vernunft insoweit Anteil, als das natürliche Gesetz das in das Herz des Menschen eingeschriebene ewige göttliche Gesetz ist.

Seit den Tagen der Kirchenväter hat die Kirche unverrüdtbar an der Idee des Naturrechts festgehalten; sie hat den Naturrechtsgedanken nicht nur im kanonischen Recht gesetzlich verankert, sie hat ihn auch in der Philosophie der mittelalterlichen Scholastik (Thomas von Aquin) zur höchsten geistigen Meisterschaft ausgebildet und ihn schließlich im 19. Jahrhundert fast allein hewahrt, als alle “Welt dem damals allmächtigen Positivismus anhing und die Kenntnis eines christlichen Naturrechts allgemein in Vergessenheit geraten war.

Daran trug allerdings der Verfall des Naturrechts im 17. und 18. Jahrhundert schuld, als man glaubte, auf rein rationalistischer Grundlage ein ganzes naturrechtliches System mit bis ins einzelne gehenden Vorschriften entwickeln zu können, was selbstverständlich zu ganz unmöglichen Ergebnissen führen mußte.

Diese Entwicklung bedeutete jedoch nur ein vorübergehendes Abirren vom wahren Wege. Denn der Genius der Rechtswissenschaft konnte nicht auf immer in der Dürre des Positivismus sein Leben fristen. Mit dem Zusammenbruch des Geistes des 19. Jahrhunderts, mit der Auferstehung des Glaubens an eine höhere Welt-Ordnung erlebt auch das Naturrecht heute wieder einmal die Stunde seiner Wiederkehr.

Auch weist Verdroß mit Recht darauf hin, daß die naturrechtliche Auffassung allein der Idee des Rechtsstaates gemäß ist, während der Rechtspositivismus dem Machtstaate dient. So greift immer mehr und mehr die “rkenntnis Platz, daß nicht nur eine Philosophie ohne Metaphysik, sondern auch eine Rechtswissenschaft ohne Rechtsidee ein Ding der Unmöglidikeit ist und daß ein Weiterleben ohne absolute Werte in den unvermeidbaren Untergang führen muß. Zur Abwehr dieser drohenden Gefahr müssen wir alle edlen Kräfte der abendländischen Kulturtradition aufrufen und zu diesen gehört nicht zuletzt auch das aus der antiken Rechtsphilosophie hervorgegangene Naturrecht, dessen geistig-sittliche Idee ewig und unbesiegbar ist!

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