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Karl Marx - ohne Mythos

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„KARL MARX —- EINE PSYCHOGRAPHIE“, von Arnold Künzll, Europa-Verlag-, Wien - Frankfurt - Zürich 1966. 872 Seiten. Leinen S 828.—

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„KARL MARX —- EINE PSYCHOGRAPHIE“, von Arnold Künzll, Europa-Verlag-, Wien - Frankfurt - Zürich 1966. 872 Seiten. Leinen S 828.—

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Wie wenig wissen wir doch über den Menschen Karl Marx, wie sehr tritt dieser immer hinter dem Werk zurück, wie sehr ist das Bild seiner Person vom Standort abhängig, den der jeweilige Betrachter gegenüber dem Marxismus bezieht, wie sehr wird gerade bei Karl Marx das Wissen um die Persönlichkeit vom Wissen um die Lehre übertroffen! Wie schwankt doch noch immer das Urteil über den Menschen Karl Marx zwischen den Extremen, zwischen kritikloser Bewunderung, ja Mythi- sierung, und Diabolisierung! Arnold Künzli, Schweizer Soziologe und Psychologe, geht den umgekehrten Weg: nicht vom Marxismus zu Marx, sondern von Marx zum Marxismus. Mit den Methoden der Tiefenpsychologie wird dem Advokatensohn aus Trier in die feinsten Verästelungen seiner Psyche nachgegangen. Und das Ergebnis von Künzlis faszinierender Untersuchung ist eine totale Zertrümmerung der Mythen, die sich bisher um den Begründer des „wissenschaftlichen Sozialismus“ gerankt haben. Weder Heiliger noch Inbegriff des Bösen, sondern Mensch — mit Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen, mehr Getriebener als Treibender, mehr aus dem Affekt Handelnder als Rationalist: Karl Marx ohne Mythos.

Gestützt auf eine Fülle von teilweise noch unveröffentlichtem Material beweist Künzli, daß Marx, für viele der Prototyp eines extremen Rationalisten, eines unbestechlichen Analytikers, tatsächlich nicht auf Grund rationaler Überlegungen, sondern auf Grund seiner psychischen Gesamtsituation zum Atheisten, zum Kommunisten wurde. Schon der junge Marx erfuhr an sich selbst ein Entfremdungsschicksal, das er dann als Folge der herrschenden Produktionsverhältnisse bei allen Mitgliedern der kapitalistischen Gesellschaft feststellen wollte. Als Nachkomme einer traditionsbeladenen jüdischen RabhX.erfami- lie ist er trotz seiner Taufe für seine antisemitische Umwelt „Jude“. Der Weg der unterwürfigen Anpassung an diese Umwelt, an den preußischen Obrigkeitsstaat — sein Vater war diesen Weg gegangen —, war für den überdurchschnittlich begabten, von einer noch unartikulierten Berufung erfüllten Karl Marx kein gangbarer Ausweg. Ein Zurück in das Judentum, eine bewußte Bejahung des eigenen Ausnahmeschicksals, war für ihn psychologisch nicht vollziehbar, da er seine haßerfüllte Abneigung gegen die eigene Mutter auf das Judentum schlechthin übertrug; denn die Mutter, die den Übertritt zum Christentum nur aus Zuneigung zu ihrem Gatten vollzogen hatte und innerlich nach wie vor sich dem Judentum verbunden fühlte, war für den Verstandesmenschen Karl Marx (zu Unrecht) zum Inbegriff und zum Zerrbild eines neidischen, jammernden, zänkischen und geizigen Judentums geworden. So gab es keine Unterwerfung und kein Zurück, sondern nur eine Flucht nach vorn. Karl Marx wurde selber zum Judenhasser, der seiner Umwelt mit häßlichen antisemitischen Ausfällen nacheiferte und der für sein erlittenes Ausnahmeschicksal in promethischem Trotz neben der herrschenden Gesellschaftsordnung auch Gott verantwortlich machte.

Rücksichtslos zerstört Künzli die frommen Legenden vom warmherzigen Revolutionär und vom vorbildlichen Familienvater. Karl Marx war mit einem überdurchschnittlich entwickelten Intellekt ausgestattet, hatte aber ein unterentwickeltes Gefühlsleben. Er war fast unfähig, Liebe zu empfinden, und wirkliche Freundschaft gab es für ihn nicht — nicht einmal gegenüber Engels. Getrieben von seiner Berufung, stürzte er seine angeblich so geliebte Familie in die ärgste Not. Aber auch der Mythos vom kühlen Empiriker hält der kritischen Untersuchung nicht stand. Hinter der Fassade des nüchternen, analytischen Wissenschaftlers stand ein von „irrationalen Mächten getriebener“ Karl Marx, der nicht induktiv von der beobachteten Wirklichkeit ausging, sondern alle Untersuchungen nur zur Bestätigung bereits feststehender Tatsachen betrieb. Wie schon Bernstein und Jaspers nachzuweisen versuchten, kommt auch Künzli zu dem Ergebnis, ein fast schon metaphysischer Apriorismus sei das vielleicht wesentlichste Charakteristikum des Marxschen Denkens.

Die Ursachen eines solchen Charakters findet Künzli in der Psyche. Diese, durch die Verdrängung des Religiösen und Irrationalen dämonisch, hinter allem revolutionären Gehabe kleinbürgerlich-komplex (Prestige- und Minderwertigkeitskomplex), destruktiv und nicht konstruktiv, beherrscht den großen Verstandesmenschen und treibt ihn in einen verzehrenden Selbsthaß (nur so sind die antisemitischen Pri- mivitäten erklärbar). „Marx, der vielen als extremer Rationalist galt und gilt..., war in Wahrheit wie kaum einer von ihm unbewußten Affekten, Trieben, Verdrängungsund Projektionsprozessen getrieben“ (S. 397). Und dieser elende, bedauernswerte Karl Marx wird zum Begründer eines Sozialismus, der wie keine zweite später entstandene Ideologie die Welt bewegt hat!

Die Erklärung für dieses Phänomen, daß ein Zerrissener, dämonisch Getriebener, Gefühlsarmer, „durch sein Judentum und seinen jüdischen Selbsthaß doppelt Entfremdeter“ (S. 634) zum Beweger der Weltgeschichte werden konnte, findet Künzli im „kollektiven Unterbewußten“. Im Anschluß an die Theorien C. G. Jung stellt er fest, „daß sich Karl Marx als Nachfahre vieler Generationen von hervorragenden Rabbinern... unbewußt mit diesem Jahve und seinem auserwählten ,Sohne1 identifizierte“ (S. 400). In

Marx wurden die Urerlebnisse des Judentums wieder lebendig; er projizierte diese Erlebnisse auf seine Zeit. Marx ist nicht durch Mitleid, durch Ethik von der abstrakten Philosophie Hegels zum Sozialen gekommen, sondern auf Grund dieses kollektiven Unterbewußten. „Er war nicht Kommunist aus Liebe zum Proletariat, sondern aus Leiden an der eigenen Entfremdung und aus mosaischer Berufung“ (S. 574). Marx als Moses, das Proletariat als Israel, das es gegen Bourgeoisie-Ägypten zu befreien gilt!

Künzlis brillante Studie des Menschen Karl Marx ist somit nicht nur Entmythologisierung, sondern gleichzeitig auch der Versuch einer neuen Deutung. So sehr sich auch Künzli auf die Marxsche Persönlichkeit beschränkt, so wenig läßt sich vermeiden, daß sein Urteil über Marx auch Baustein für ein Urteil über den Marxismus wird. Die Vertreter des Marxismus aber, für die das vorliegende Buch eine Herausforderung sein muß, haben nun Gelegenheit, sich ausführlich mit dieser Auslotung des Menschen Karl Marx zu befassen und die Provokation auch zu beantworten.

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