6744305-1967_01_05.jpg
Digital In Arbeit

Parlament und Fernsehen

Werbung
Werbung
Werbung

Vor mehreren Wochen hat das britische Unterhaus den Beschluß gefaßt, auf seiner ablehnenden Haltung gegenüber Fernsehaufzeichnungen von Unterhaussitzungen zu beharren. In Österreich hingegen wird Fernsehsendungen über Nationalratssitzungen seit dem Auseinanderbrechen der Koalition verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt und als Zeichen lebendiger Demokratie gerühmt. Was die Mutter aller Parlamente zurückweist, praktiziert unser noch im Pflichtschulalter steckender Parlamentarismus mit wachsender Hingabe. Diese Gegenüberstellung zeigt nicht nur auf eine Frage des Stils, sie beleuchtet auch das Selbstverständnis der Parlamentarier, ihre Auffassung von den Funktionen des Parlament.

Debatten im britischen Unterhaus zielen darauf ab, „Reden zum Fenster heraus“ zu sein. Sie sollen keineswegs primär die unmittelbar zu fällende Entscheidung beeinflussen — das wäre auch zwecklos, denn die Regierung kontrolliert die straff geführte Mehrheit des Unterhauses, und ihr Standpunkt steht schon zu Beginn der Debatte fest. Die Parlamentsdebatten sollen die öffentliche Meinung widerspiegeln und, mehr noch, diese bilden. Das in der Verfassungstheorie existierende Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung ist in der Verfassungswirklichkeit aufgehoben, es wird ersetzt durch das Spannungsverhältnis zwischen Regierung und Opposition. Im britischen Unterhaus, dessen Bewußtsein diesen Funktionswandel schon lange begriffen hat, sind Parlamentsdebatten „antizipierte Wahlkämpfe“ (Fraenkel).

Nicht nur Schnörkel

Das Parlament als Instrument zur Bildung der öffentlichen Meinung, als Stätte eines permanenten Wahlkampfes: und trotz dieser Funktionen lehnt das Unterhaus die Verwendung des Mediums ab, das die parlamentarische Tätigkeit der Öffentlichkeit, dem Objekt aller parlamentarischer Bemühungen, ungefiltert übermittelt! Dieses Beharren des britischen Unterhauses auf seiner „fernsehfeindlichen“ Einstellung ist mehr als viktorianischer Schnörkel, mehr als ein antiquierter Konservativismus, dem sich auch die Labour-Party hingeben würde. Es ist ein Symptom für die Skepsis der britischen Parlamentarier gegenüber dem Eindringen plebiszitärer Elemente in ihre repräsentativ-demokratische Versammlung.

Spricht edn Abgeordneter mit dem Bewußtsein, gleichzeitig zu Millionen von Fernsehern zu reden, wird er sich einer anderen Diktion bedienen, als wenn er unmittelbar nur zu einer begrenzten Zuhörerschaft spricht. Unter Kollegen ist man ehrlicher. Man ist viel eher bereit, die Dinge bei ihrem wirklichen Namen zu nennen, wenn die Zuhörerschaft die Hintergründe kennt. Der direkte, plebiszitäne Appell an die breite Öffentlichkeit verführt dazu, Tatsachen zu verbrämen, für einfach erklärbare Vorgänge einen euphemistischen Überbau zu suchen, die Flucht in die Phrase anzutreten. Aus konkreten politischen Interessen werden plötzlich „ewige Werte“, Abstraktionen dienen zur Verhüllung der wirklichen Entscheidungen. Jeder, der die Verlebendigung des österreichischen Parlamentarismus beobachtet, wird für diese Erscheinung einige Beispiele aufzählen können. Man spricht nicht nur „zum Fenster heraus“, man hat sich auch — rechts und links — noch zuwenig mit dem Pluralismus der Interessen, mit dem Relativismus des politischen Handelns ausgesöhnt.

Mehr Ehrlichkeit

Von Winston Churchill stammt das Wort, er und seine Kollegen würden im Parlament Interessen vertreten und Gruppenbindungen besitzen. Das Gegenteil zu behaupten, sei lächerlich — „das kann im Himmel, aber nicht hier geschehen.“ Dem noch reifenden Parlamentarismus. Österreichs können solche Wahrheiten nicht oft genug vorgehalten werden. Man sollte deshalb auch die Frage, ob man im Fernsehen das Schwergewicht der parlamentarischen Berichterstattung grundsätzlich von der Aufzeichnung von Debatten im Plenum auf Interviews, Reportagen und eigens veranstaltete Diskussionen verlagern soll, zum Anlaß nehmen, sich diese Realitäten einzugestehen. Denn diese ist zwar eine schlechte, aber immerhin die relativ beste Regierungsform.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung