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Die Idee der Solidarität

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Im gegenwärtigen Wortschatz -nicht nur im deutschsprachigen! -gibt es kaum ein Vokabel, welches emotionell so positiv besetzt und in bezug auf seine tatsächliche Kapazität zur Lösung sozialer Probleme so inhaltsleer hilflos und im Zusammenhang mit konkreten Institutionen gleichzeitig so unentbehrlich ist wie der Begriff „Solidarität".

Die Solidarität ist als ein gegenseitiges Aufeinander-angewiesen-Sein der einzelnen" und ganzer Gruppen von Menschen ein Faktum der Seinsordnung, dem niemand entgehen kann. Sie ist aber gleichzeitig ein notwendiges Postulat menschlichen Verhaltens in seiner Sollensordnung. Dasselbe hat schon Walter Eucken (1952) für den Begriff „Wirtschaftsordnung" festgestellt. Das ergibt die Logik von Sein und Sollen. Damit müssen und können wir leben.

Die Hilflosigkeit liegt im Gebrauch des Begriffes zur Herbeiführung einer Sollensordnung, von welcher wir uns konkrete Konfliktlösungen versprechen. Beispiele: Gefordert wird „solidarische Umverteilung". Gibt es aber irgendeine Umverteilung, das heißt eine Veränderung einer gegebenen Verteilung, die nicht mit irgendeiner normativen Solidarität begründet wird? Wäre der Übergang von Kompetenzen von den Kollektivvertragspartnern auf die einzelnen Betriebe eine Entsolidari-sierung oder die Entdeckung einer neuen, heute zur Konfliktlösung geeigneteren Betriebssölidarität?

Welche Solidarität könnte zum Beispiel den Semperit-Conti-Konflikt lösen: Die Solidarität mit den niedrig entlohnten tschechischen Arbeitern, die Solidarität mit den Arbeitern in Traiskirchen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die Arbeiter des tschechischen Werkes mit Hilfe der Traiskirchner Maschinen, mit deren hoher Produktivität und ihren geringeren Arbeitskosten eine hohe Effizienz gewährleisten, oder die Solidarität mit den Beschäftigten in Deutschland, die zur Bettung ihrer Arbeitsplätze die Schließung einer Reihe anderer Con-ti-Töchter verlangen?

Was unterscheidet eine „Solidaritätsabgabe" von allen anderen Steuern zugunsten sozial Schwacher oder zugunsten aller Benutzer staatlicher Einrichtungen? Welche Solidarität ist „die Solidarität": die mit allen, die aus Not nach Osterreich einwandern wollen, oder die Solidarität mit allen im Inland Befindlichen, die um Arbeitsplatz und Sicherheit besorgt sind? Die Solidarität mit den auf Agrarexporte angewiesenen Entwicklungsländern oder mit den österreichischen Bauern, die um den Absatz ihrer Produkte bangen?

Heißt „mehr Solidarität" Solidarität innerhalb eines geographisch größeren Gebietes oder mehr Hilfe innerhalb von Nachbarschaft und Be-gion? Ist die gerade von sozial Engagierten mit zunehmender Skepsis beobachtete Globalisierung der Weltwirtschaft nicht gerade Ausdruck einer Maximalsolidarität? Ist eine globale Sozialpolitik für die Betroffenen wirklich besser als eine nationale?

Stellt die Forderung nach einer Globalisierung der Solidarität nicht das Subsi-diaritätsprinzip auf den Kopf? Ist Solidarität wirklich „unteilbar", wenn es vielerlei Solidaritäten gibt, die miteinander in Konkurrenz liegen? Kann Solidarität wirklich „das Prinzip einer neuen Hoffnung" sein und „eine Option für die Zukunft", wenn alle Alternativen dazu auch nichts anderes als wieder - wenn auch andere - Solidaritäten sind?

Das so gefühlsbetonte Schlagwort der Solidarität ist deshalb so kontraproduktiv, weil es Lösungsvisionen vortäuscht, die damit nicht wirklich begründet werden können. Historisch hatte der Begriff „Solidarität" eine Blütezeit, als man damit im Namen der Katholischen Soziallehre eine irrationale Spannung überwinden konnte zwischen der Angst vor einer Gesellschaft, die nur aus unsolidarischen Individuen besteht (die es gesellschaftlich nie geben kann) und einer Gesellschaft des Kollektivismus, die jedem menschlichen Individuum seine existentielle Freiheit beschneidet und die nun nach siebzigjähriger Realität mit der Rerliner Mauer für alle offenkundig zusammengebrochen ist. Als Inbegriff des „Solidarismus" (von Heinrich Pesch SJ 1923 bis Felix Hurdes 1945) wurde damals mit Erfolg die Wechselwirkung vom einzelnen und seiner gesellschaftlichen Umwelt charakterisiert.

Die Tatsache, daß der Begriff „Solidarität" so sehr „zwischen verschiedenen Vorstellungen, Inhalten, Interpretationen, Positionen und Sichtweisen" schillert, als „Parole für ein Miteinander, aber auch gegen einen gemeinsamen Feind", und daß es wenige Wörter gibt, die gegenwärtig so strapaziert werden wie „Solidarität", hat die für Wirtschaftsfragen kompetente Bedakteurin der furchk seit langem beschäftigt. Ihr Versuch, Solidarität begreifbar zu machen, ist ein großer Wurf. „Dieses Buch kommt zur rechten Zeit", meint ihr Doktorvater, der Politologe Heinrich Schneider, es leiste Klärungen, die der zeitgenössischen Diskussion dringend nottun. Mehr noch: angesichts der Hilf- und Batlosigkeil, die daraus zu erkennen ist, ist es längst überfällig!

Zur Klärung der wei teren Bichtung der Diskussion um brauchbare Begriffe der Solidarität hat Elfi Thiemer die vier historischen Kronzeugen Karl Marx, Max Scheler, Aristoteles und Talcott Parsons für ihre „vier Wege zum Verständnis eine; menschlichen Miteinander" herangezogen. Ihre Auswahl wird damit begründet, daß sie ein „der Sache und ihrer Problematik angemessenes, mehrdimensionales und viel-schichtiges Verständnis" ermöglichen. Die Autorin will klären, wie mit dem Begriff „Solidarität" problemlösend („sinnvollerweis 3") umgegangen werden kann und „was man von ihr in der Realität des gesellschaftlichen und politischen Löbens erwarten darf - und wo die Gef ihr einer ideologischen Überbewertung oder Verzeichnung besteht" (Seite 25).

Elfi Thiemer beleuchtet zu diesem Zweck die unterschiedlichsten Konzepte und Theorien anhand dieser aufschlußreichen Denker, die der Solidarität im Rahmen ihrer anthropologischen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen eine besonders wichtige und prägnante Rolle zugeschrieben haben. Thiemer schließt ihre Untersuchungen mit der „Notwendigkeit weiterzudenken" (S. 229).

Durch den Abschluß mit Talcott Parsons" gibt sie selbst die Richtung für ein fruchtbares Nachdenken, welches das individuelle Solidaritätsbewußtsein als Einsicht in die Seinsordnung und die individuelle Bereitschaft zum solidarischen Handeln als Beitrag zur wünschenswerten Sollensordnung erst durch geeignete soziale Systeme gesellschaftliche Problemlösungskapazität schafft. Talcott Parsons sieht das Konfliktlösungspotential des Solidaritätsverständnisses nicht von personalen „Aktrichtungen" (Freundschaft und Liebe) bestimmt, sondern vom Zusammenwirken sozialer Systemelemente. Die abstrakten Gesellschaften (Plural!) bestehen aus sozialen Systemen und Subsystemen. Weitere Unterteilungen - liegt nahe zu ergänzen - sind die vielen einzelnen Institutionen (Regelsätze mit oder ohne eigenen Organisationen). Parsons, der von vielen als der bedeutendste amerikanische Soziologe der jüngsten Zeit betrachtet wird, unterstreicht die Mehr-dimensionalität der Solidarität und hat sich der Solidarität als „systemintegrierender Leistung" zugewandt.

Das nämlich ist es, was die Begriffe der Solidarität als Norm der Gesinnung (Max Scheler und sein Schüler Karol Wojtyla) und als Institution zur Lösung sozialer Konflikte verbindet: Es bedarf dazu eines sozialen Systems, das zur Erreichung seiner Effektivität voll adäquater Institutionen, aber lediglich eines ausreichenden individualethischen Konsenses einer ausreichenden Zahl von Beteiligten, den „gesellschaftlich notwendigen Mindestkonsens" nötig hat.

Als Fazit liegt nahe: „Die Solidarität" ist heute pädagogisch und pastoral als persönliche Sollens-Haltung zu verstehen, die gelernt werden kann und gelernt werden muß. Ihre Fähigkeit zur Lösung zwischenmenschlicher Probleme ist aber nicht von Appellen zu „mehr Solidarität" zu erwarten, sondern durch konkrete Institutionen und mit Appellen zu ihrer Einführung in die konkrete aktuelle Gesellschaft, zur Abschaffung problemschaffender und zur Änderung nicht ausreichend problemlösender Institutionen.

Der Autor ist ehemaliger Finanzminister und Notenbankpräsident sowie Mitherausgeber der Fl.HClIE.

" Z. B. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, Juventa Verlag Weinheim und München 1972, 4. Aufl. 1996 (1. Aufl 1972); ders., Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns, hrsg. und übersetzt von Harald Wenzel, Sahlkamp Verlag Frankfurt am Main 1986, 1994 (1. Fassung 19)9).

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