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Die österreichische Wirtschaft und die Atomzivilisation

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Wie in vielen anderen Kreisen, haben die angekündigten Mirakel des Atomzeitalters nicht zuletzt auch im europäischen Bauerntum große Hoffnungen erweckt, als ob darin der Zauberschlüssel liege, der die Probleme der Landwirtschaft löst. Durchaus typisch verspricht eine deutsche Aussendung, die vielfach nachgedruckt wurde (Dr. O. v. Plotho), daß die Atomkraft berufen ist, eine Beschleunigung des pflanzlichen Entwicklungszyklus zu bewirken, der es möglich machen wird, in einem Jahresumlauf mehrere Ernten zu erzielen. „Auch auf dem Gebiete der Viehzucht sollen Versuche laufen, die mit Hilfe radioaktiver Mittel die Erreichung eines hochwertigen Typs zum Ziele haben“ (Die Genossenschaft, 1. April).

Nicht wesentlich davon unterschieden lauten die Offenbarungen der Genfer Atomkrafttagung. Durch die radioaktive Vorbehandlung der Samen soll die Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzflächen in die arktischen Gebiete und in die Wüstenlandschaften hinein erreicht werden. Der schwedische Genetiker Ake Gustavsson führte u. a. aus: „Unsere Pflanzen haben sich überlebt. Gerste ist immer noch, was sie vor 500.000 Jahren war. Nunmehr aber können wir durch Radiation ihre Chromosome reorganisieren und modernisieren. Wir können ganz neue Chromosome bekommen. Wir können die Mutterpflanzen verändern und eine Nachkommenschaft produzieren, die sich mit Eigenschaften fortpflanzen wird, die vom ursprünglichen Typus gänzlich verschieden sind“ (New York Times, 16. August).

Das alles kann man, je nach Temperament, mit großem Enthusiasmus, Optimismus und naivem Vertrauen in die Unbegrenztheit und Unfehlbarkeit wissenschaftlicher Errungenschaften aufnehmen oder aber mit nicht geringerer Berechtigung auch mit Skepsis, Vorsicht und Zurückhaltung. Dem konservativen bäuerlichen Denken, das nicht allein an die Verdoppelung des Einkommens durch radioaktive Reifebeschleunigung denkt, sondern an den Naturzusammenhang als solchen, entspricht die letztere Haltung, die auf einem Gebiete, auf dem bisher das noch dazu gänzlich undurchsichtige Gefahrenmoment so sehr überwiegt, wohl die besonnenere und vernünftigere ist.

Was den bisherigen Darlegungen von der Schicksalsverbundenheit von Industrie und Bauerntum gerade in der österreichischen Wirtschaft vor Augen schwebte, das ist die nationalwirtschaftliche Anwendung eines Prinzips, da Amerika im letzten Jahrzehnt nicht zuletzt auch im österreichischen Räume und Interesse mit großen Erfolgen angewendet hat: die wirtschaftliche Hilfeleistung zur Sanierung zerstörter, gefährdeter oder kranker Wirtschaftsgebiete, deren Wiederaufbau der gesamten Weltwirtschaft, einschließlich der amerikanischen Wirtschaft, zugute kommen muß. Die Form, in der sich diese Hilfeleistung vollzieht, wird zwar nicht überall die überschwenglichen Hoffnungen zu befriedigen vermögen, die sich der durchschnittliche Amerikaner von den privatwirtschaftlichen Investitionsmöglichkeiten in solchen sanierten Ländern zu machen pflegt. Aber die über jene privatwirtschaftlichen Hoffnungen weit hinausreichende Grundidee, aus dem „New Deal“ Roosevelts geboren und im „Fair Deal“ Trumans weitergetrieben, ist von solcher Fruchtbarkeit, daß selbst die Russen davor geistig kapituliert haben, indem sie, um des Handels mit dem Westen willen, auf ihre Isolierung zu verzichten beginnen. Die Großzügigkeit dieses Kapitalismus, der in Weltdimensionen denkt (der freilich gar kein Kapitalismus in Reinkultur mehr ist, vielmehr ohne die konstruktive Organisationsleistung der öffentlichen Hand in Industrie, Landwirtschaft, Außenhandel und Steuertechnik gar nicht zu denken wäre), hat abstrakte und konkrete Sozialisten in gleicher Weise überzeugt, daß im ausgehenden, organisierten Kapitalismus Amerikas doch auch eine positive weltpolitische Linie enthalten ist, mit der zu „koexistieren“ nicht ohne Vorteile ist.

Ganz dasselbe, was Amerika in vielen Ländern der Welt, auch in unserem Land, gemacht hat, müssen die konkreten Sozialisten, auch unsere eigenen Sozialisten, nicht zuletzt in ihrem eigenen, wohlverstandenen Interesse, auch für die österreichische Landwirtschaft tun: sie müssen aus der Substanz der Industriewirtschaft, die allein im voraus Hilfe leisten und Opfer bringen kann, die Landwirtschaft wieder zu einem vollwertigen und gleichberechtigten Partner machen, im elementaren Bewußtsein, daß es zwei sind, die eine volle Partnerschaft konstituieren. Das heißt aber nicht, die Landwirtschaft durchindustrialisieren, vielmehr ihren bäuerlichen Kern modernisieren, was gerade so viel an landwirtschaftlicher Mechanisierung einschließt, als dafür nötig ist, nicht aber darüber hinaus so viel, um das bäuerliche Leben zu einem quasi industriellen zu machen wie in Amerika.

Größe und Gefahr des amerikanischen Weges“

Nach Anerkennung dieser Analogie,. für welche die Idee der amerikanischen Hilfeleistung als Vorbild dienen kann, kommt freilich ein Nachsatz, der den Inhalt dieser Idee nicht in gleicher Weise auch überall als nachahmenswert erklärt. Die Amerikaner sind naturgemäß nicht daran interessiert, daß jene Länder, denen sie helfen, die ihnen historisch entsprechenden Landessitten und Lebensgewohnheiten beibehalten, sondern die großzügigen Spender wünsehen selbstverständlich, daß jene wiederaufgebauten Volkswirtschaften möglichst stark in die Weltwirtschaft einbezogen werden, damit sie mit den dabei zu erwerbenden Dollars vor allem auch amerikanische Produkte kaufen können. Einfacher formuliert heißt dies, daß es die Amerikaner am liebsten sehen, wenn alle Welt dieselben Typen von „Gadgets“, das sind die aus der Luxussphäre in den allgemeinen Konsum aufsteigenden Einzelerrungenschaften der amerikanischen Zivilisation, wie Autos, Waschmaschinen, Eisschränke, Fernhör- und Fernsehapparate, kauft, wie sie' in Amerika selbst bereits auch jeder Minderbemittelte als Ausdruck materiell höheren Lebensstandards besitzt. Das kann jedoch zweifellos nicht das Ziel und die Absicht der österreichischen Industrie im landwirtschaftlichen Sektor sein, immer wieder neue Bedürfnisse anzureizen und ihre breiteste Befriedigung sicherzustellen, auch wenn eine zunehmende Angleichung zwischen dem Stadt- und landwirtschaftlichen Niveau in zahlreichen technischen Bereichen wünschenswert und wichtig ist. Das amerikanische Wirtschaftsprinzip, das in erster Linie den raschen Umsatz, nicht die Haltbarkeit und die Dauerbefriedigung betont, bestellt darin, jeweils neuen Schlüsselindustrien mit den allerletzten Errungenschaften die Chance der Massenversorgung zu geben, wogegen die älteren Schlüsselindustrien durch ständige Variation der einzelnen Jahrestypen konkurrenzfähig zu bleiben hoffen. Die amerikanischen Käufer sind daher längst daran gewöhnt, alljährlich ihre alten Modelle gegen neue umzutauschen, abgesehen davon, daß um die Zeit des möglichen Umtausches auch die ersten Reparatursorgen auftauchen. In der amerikanischen Landwirtschaft heißt dies zumeist, daß der Farmer zum Hilfsarbeiter der Landwirtschaftsmaschinen- und Hausgeräteindustrie geworden ist, die ihm gerne Kredit gewährt, dabei aber dafür Sorge trägt, daß altmodisch und vielfach auch unbrauchbar wird, was ausbezahlt ist, so daß das Spiel mit den neuesten Modellen alsbald wieder von vorne beginnen kann.

Da freilich das österreichische Bauerntum ein gesellschaftlich viel heikleres Substrat ist als die Kolonialvölker des amerikanischen Kapitalismus (zu denen in vielen Dingen auch die amerikanischen Massen gehören), so ist es die Aufgabe der österreichischen Industrie, eine qualitative Auswahl zu treffen, die für die Landwirtschaft bereitgestellt werden kann, Qualitätsprodukte auf den Markt zu bringen, bei denen die Solidität, nicht die baldmögliche Austauschbarkeit an erster Stelle steht, kurz, sich auf den Konservativismus des Kunden einzustellen, nicht ihn an der Wurzel zu zerstören. Die Industrie muß darnach Güter erzeugen, die nicht nur ihr eigenes materielles Marktinteresse im Auge behalten, sondern darüber hinaus ebenso auch das Produktions- und Lebensinteresse eines seiner Idee nach über den Indu-strialismus hinausreichenden Bauerntums. Indem eine solche Zielsetzung durch die reine Marktwirtschaft, die sich allein nach den Preisen und Profiten orientiert, niemals aufstellbar ist, muß darüber hinaus ein geistiger Faktor in der Industriewirtschaft selbst wirksam bleiben, der nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Ziele planmäßig sichtet. Hier liegt die große Funktion des konkreten Sozialismus gegenüber dem Bauerntum, umgekehrt das Lebensirtteresse des letzteren an einem staatspolitischen' Wirtschaftsplan.

Um die Gefahren richtig einzuschätzen, die dem europäischen Bauerntum von der Seite des ungehemmten Industrialismus drohen, der es auf das Niveau des amerikanischen Farmertums bringen will, muß man beachten, daß es sich dabei keineswegs nur um die Technisierung der Landwirtschaft allein handelt (Elektrifizierung, Mähdrescher, Traktoren, Melkmaschinen), sondern in steigendem Maße um einen zusätzlichen technischen Faktor, der erst im letzten Jahrzehnt völlig herausgetreten ist, um ihre Chemisierung (Kunstdünger, Insektiziden, Herbiziden, Antibiotika). Ein gesundes Maß an technischen Errungenschaften, namentlich im landwirtschaftlichen Großbetrieb auf dafür günstigen Böden, ist selbstverständlich; ein solches kann auch in die bäuerliche Gesamtordnung organisch eingebaut werden; wichtig ist nur, daß die Technik“ nicht das alleinige Ziel der bäuerlichen Produktionsgestaltung wird, wie es legitimerweise in der Industrie der Fall ist, die mit der fortschreitenden Rationalisierung steht und fällt. Darüber hinaus wagt jedoch kein noch so naiver Optimismus in der Beurteilung der chemischen Errungenschaften unseres Zeitalters mehr zu behaupten, daß ihre schrankenlose Anwendung, wie sie charakteristisch ist für Amerika und zwangsläufig weiterverfolgt werden muß, wo erst einmal eine gewisse Bahn betreten ist, zu einem guten Ende führen kann. Das Günstigste, das man vom Chemismus in der Landwirtschaft sagen kann, ist, daß er vorübergehend, wenn der chemische Einsatz fortlaufend potenziert wird, die Erträge quantitativ steigert (so wie dies auch von der Atomkraft-Landwirtschaft erwartet wird). Kaum fraglich aber bleibt dabei, ob der Chemismus die landwirtschaftliche Produktion auch qualitativ steigert, die Produkte der Landwirtschaft immer begehrenswerter macht und vor allem die Konkurrenzfähigkeit der Inlandsproduktion mit der Ueber-see hebt. Da der Chemismus nach immer intensiverer Anwendung seiner selbst verlangt, ist kein Ende abzusehen. Das jedenfalls ist die Lehre des letzten Jahrzehnts, die ein kritisches Denken bereits aus der Situation der amerikanischen Landwirtschaft gewinnen kann.

Um die Zusammenhänge für die Gesamtwirtschaft zu sehen, die in dieser Problematik angedeutet sind, muß man drei aufs allerengste zusammenhängende Problemkreise unterscheiden, für deren Wechselbeziehungen die amerikanische Zivilisation ein überaus anschauliches Modell geworden ist: die landwirtschaftliche Urproduktion, die Volksernährung und die Heilkunde (dazu meine Studie: Die geistige Gestaltung des biologischen Schicksals. Probleme der amerikanischen Zivilisation, Heilkunst, München 1954). Auf allen drei Gebieten ist die amerikanische Zivilisation auf Grund bedeutender wissenschaftlicher Errungenschaften durch deren wahllose, massierte und naive Verwendung in einen schier unentrinnbaren Ablauf hineingeraten, der von den naturgetreuen Lebensformen, in die der Mensch die technischchemischen Errungenschaften immer nur mit großer Vorsicht und Umsicht einschalten sollte (was allein auch würdig ist, Wissenschaft zu heißen), mit Riesenschritten ins Unbekannte abtreibt. Die Folgen vor allem für die Volksernährung, damit aber für Fortpflanzung und Rasse, sind völlig unabsehbar. Das Problem ist, neben dem der Atomwaffe und der Atomindustrie, von zweitgrößter Aktualität in Amerika und allen geistig davon abhängigen Ländern (zu denen auch Rußland gehört). Ueberdies zielt das Problem ins Herz des europäischen Bauerntums, wenn es kein bloßes Farmertum werden will, in dem dann das amerikanische Urbild infolge der heftigeren Reaktionen jeder Kolonialvarietät nur noch katastrophaler abläuft. In Amerika selbst melden sich bereits gewichtige Stimmen von Wissenschaftlern, Aerzten, Volkserziehern, die im Gegensatz zur vorherrschenden technischchemischen Landwirtschaft, die ein bloßer Wurmfortsatz der Industrie ist, den Aufbau einer „organisch-biologischen“ Produktions- und Lebensform propagieren. Diese Stimmen sind vorläufig noch isoliert, auch nicht in allen Dingen klar (vor allem nicht in den sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen jeder naturgetreuen Wirtschaft), während die offizielle Propaganda und öffentliche Meinung mit der dem Amerikaner-tum eigentümlichen Leidenschaft, Ungeduld und Unbeirrtheit den gegenteiligen Weg weiterschreitet, ohne zu sehen, daß er schon jetzt von Katastrophen begleitet ist. Man hat freilich nicht mit Unrecht darauf verwiesen, daß die ungeheuer raschen Veränderungen des amerikanischen Klimas, in gleicher Weise aber auch der öffentlichen Meinung (gestern russophil, heute russophob, morgen wieder russophil), Veränderungen, die vielleicht durch die künstliche Steigerung der Radioaktivität in der amerikanischen Atmosphäre noch intensiver geworden sind als früher und weiter intensiviert zu werden alle Aussicht haben, kein anderes Land der Welt gleich günstig dafür vorausbestimmen, daß vielleicht eines Tages in einer ungeheuren Krise, auf die bereits heute die Bodenverwüstungen, Sandstürme, Ueberschwem-mungen, Bodenverschlackungen durch Monokulturen und Pestiziden, kurzum die Folgen der Industrialisierung der amerikanischen Landwirtschaft hinweisen, einen völligen Umschwung des Denkens bewirken können, wodurch, was heute noch eine kleine Bewegung für die organisch-biologische Urproduktion, Volksernährung und Heilkunde ist, morgen vielleicht die öffentliche Meinung vollständig zu erfassen vermag. In der Zwischenzeit aber sollten die europäischen Imitatoren des amerikanischen Vorbildes vorsichtig genug sein, um nicht vorher noch schlimmere Resultate zu erzielen, als auf einem Kontinent eintreten können, dessen Substanz noch immer unerschöpflich ist.

Eine naturtreue Wirtschaft Vorläufig wird der amerikanische Weg in der übrigen Welt begeistert nachgeahmt, wenngleich es auch anderswo bereits genügend Gegenstimmen gibt. Gerade eine kleine Volkswirtschaft, die ihrer geistigen Berufung nach weder amerikanisch noch russisch sein darf (beides auf diesem Gebiete wie auf keinem anderen identisch), müßte hier ein Problem und eine Aufgabe sehen, deren konsequente Verfolgung und Lösung der erstrebten Qualitätswirtschaft neue Impulse zuführen würde. Diese Zeilen plädieren nicht für die radikale Ersetzung der realen Landwirtschaft mit ihrem ansteigenden technisch-chemischen Sektor durch eine ideale, organisch-biologische, obwohl der Anblick der amerikanischen Landwirtschaft den europäischen Beobachter, der soziologisch denkt, wohl ungeduldig genug machen könnte, um eine solche Forderung radikaler Umstellung zu erheben, ehe es zu spät ist. Nachdem es sich jedoch in jeder naturgetreuen Wirtschaft in letzter Linie um ein soziales Problem handelt, um eine neue Familienwirtschaft, in der es viele Arbeitskräfte gibt, kann es auch nur eine allmähliche mühevolle Entwicklung dorthin geben, nicht einen kühnen Sprung, eine gesetzgeberische Auflage oder selbst eine massenpsychologische Umkehr. Wie es in der Atomkraftzivilisation kein Schwimmen gegen den Strom gibt, wohl aber ein solches einzelner, immer zahlreicher werdender kühner Schwimmer quer durch den Strom wird geben müssen, so auch in diesem ihren. Vorstadium. Nicht um die plötzliche Veränderung der Grundlagen der gegebenen Gesamtlandwirtschaft, auf denen ihre Existenz und Funktion beruht, kann es sich heute im Ernste handeln, sondern allein um die öffentliche und private Schaffung von immer mehr Zellen einer über den Chemismus hinauswachsenden Wirtschafts- und Lebensform auf erprobter wissenschaftlicher Grundlage, Zellen, die selbst beweisen müssen, daß sie auch noch auf Grenzbetrieben produktiver zu wirtschaften vermögen als die Durchschnittslandwirtschaft. Es ist nicht so, daß sich die Landwirtschaft eines ganzen Gebietes aus der vorherrschenden Technisierung und Chemisierung zurückziehen und heraushalten kann, wie es einzelne moderne Sektierer auf diesem Gebiete, darunter auch praktische Gentlemanfarmer, die es sich freilich leisten können, verfechten. Ein solcher Rückzug ist unmöglich und wird mit dem weiteren Fortschreiten der Industrialisierung immer unmöglicher.

Um so notwendiger aber wird es gerade dadurch, daß sowohl die Landwirtschaft selbst ihre überindustrielle geistige Zielsetzung, die eine wirtschaftliche, keine ausschließlich religiöse ist, vollauf begreift, als auch daß die organisierte Industriewirtschaft, vor allem der konkrete Sozialismus in ihr, dieses Begreifen unterstützt und fördert. Vor allem die charakteristisch bäuerliche, vielseitige, krisenfeste Familienwirtschaft muß sich als nichtindustrieller, niemals industrialisierbarer Sektor erkennen und die sozialistische Arbeiterschaft muß dieser Erkenntnis im eigenen Interesse aktivistisch zustimmen. Wenn damit der primitiven Expansion des Industrialismus innerhalb der Volkswirtschaft gewisse Grenzen gezogen sind, wird sich auch für die verbleibende Naturbasis der Landwirtschaft wieder in stärkerem Maße das Bewußtsein durchsetzen, daß es eine naturgetreue landwirtschaftliche Methode gibt, die auf lange Sicht produktiver ist als der moderne Chemismus, der im Grunde kurze Beine hat. Dann wird es auch an weitreichenden Experimenten in einer solch geistig gesunden Landwirtschaft nicht fehlen. Was eine Reihe von Gentlemanfarmern (vor allem unter den deutschen Anthropo-sophen, um nach ihrem Organ „Lebendige Erde“ in Stuttgart zu schließen) zu tun vermag, nämlich die quantitative und qualitative Produktivität der organisch-biologischen Methode unter Beweis zu stellen, das sollte auch anderen Kräften möglich sein. Oeffentliche Körperschaften des landwirtschaftlichen, aber auch des gewerkschaftlichen Sektors müßten Musterbetriebe errichten und fördern; einzelne Landwirte, welche die Substanz für das Experiment haben, sollten die Probe aufs Exempel machen (wie es vor allem in England in den Kreisen um das Organ „Mother Earth“ vielfach geschieht); aber auch kleine bäuerliche, ja selbst ursprünglich nichtbäuerliche Landwirte, die aus der Siedlerbewegung kommen, könnten auf Grenzbetrieben, die unter der herrschenden Methode sich verschlechtern, beweisen, daß man sie mit Zähigkeit und Fleiß durch eine naturgetreue Wirtschaftsform verbessern kann. In einer Situation, in der bereits zehn Prozent aller bäuerlichen Wirtschaftseinheiten auslaufende, erbenlose Betriebe darstellen, gleichzeitig aber es durch die Flüchtlinge aus den Ostländern eine genügende Anzahl bodenhungriger landwirtschaftlich geschulter Familien gibt, ist es äußerste Kapitalvergeudung, das Gesamtschicksal von Landwirtschaft und Bauerntum schlechthin dem Automatismus der Marktwirtschaft zu überlassen, die in der Dauerhochkonjunktur zwangsläufig von der forcierten Industrialisierung über die Chemisierung der Landwirtschaft in die Atomkraftzivilisation hineinführen muß, in der das europäische Bauerntum folgerichtigerweise überflüssig wird.

Gerade eine organisierte Siedlerbewegung böte für die empfohlenen Experimente eine natürliche Unterlage und erste Schule. Wie es in der Natur der Sache liegt, erhielt die Idee der Nebenerwerbssiedlung mit intensiver gärtnerischer Produktion am Rande der Industriegebiete in den verflossenen Wirtschaftskrisen der Vorkriegszeit große Antriebe (A. Mahr), während in der Phase der Hochkonjunktur, die ein Phänomen der forcierten Industrialisierung ist, deren Konsequenzen freilich hinausgeschoben werden, diese Idee wieder der Vernachlässigung verfiel, obwohl der Siedlergürtel von Industriegebieten einen idealen, jeweils expansions- oder kontraktionsfähigen Wirt schaftstypus darstellt, der als wirtschaftlicher Puffer zwischen Stadt- und Landwirtschaft seine besondere dauernde Existenzberechtigung besitzt. Darüber hinaus kann die Qualitätsproduktion der Siedler, in der die Geschicklichkeit der Industriearbeiter sich den Bodenproblemen zuwendet, eine wertvolle Brücke darstellen, die für die naturgetreue Landwirtschaft Materialien und Menschen bereitstellt, wie sie im eigentlichen Bauerntum oft fehlen.

Was der Industrialismus begonnen hat, muß die Atomkraftindustrialisierung an der Landwirtschaft vollenden. So grotesk es auch in manchen Ohren klingen mag: das europäische Bauerntum, das vom Amerikanismus und vom Sowjetismus in gleicher Weise an der Wurzel bedroht wird, das aber vor allem in einer amerikanisch - russischen Atomkraftzivilisation untergehen muß, kann nur durch denjenigen konstruktiven Sozialismus gerettet werden, der die konservative Idee der christlichen Sozialreform von der Eigenart und dem Eigenrecht der bäuerlichen Denk- und Lebensform in sein planwirtschaftliches Denken aufgenommen hat. Das ist das Ergebnis einer fast zwanzigjährigen, an der amerikanischen Zivilisation erwachsenen Erfahrung.

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