6552422-1948_02_01.jpg
Digital In Arbeit

Ideen und Fahnen

Werbung
Werbung
Werbung

Die Erhebungen in Paris, "Wien und Berlin, in. Mailand, Prag und Ofen leiteten vor hundert Jahren das europäische bürgerliche Jahrhundert ein, um dessen Grundlagen heute gerungen wird. Drei große Ideen beherrschten diese Epoche bis heute: die Idee der politischen Freiheit, die im wesentlichen auf die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 zurückgeht und in dem Axiom gipfelt, daß die parlamentarische Demokratie die beste Staatsverfassung darstelle, indem sie die Ausübung und Kontrolle der Regierungsgewalt mit den Freiheitsrechten des einzelnen verbinde, der Nationalismus mit dem für jede, auch die kleinste Nation durchgesetzten Anspruch auf Selbstverwaltung und gleichen Rang in der Gesellschaft der Staaten und die marxistische Gesellschaftstheorie, die auf dem Grundsatz des Klassenkampfes beruht und eine Ordnung sozialer Gerechtigkeit von der Eroberung der Produktionsmittel durch das Proletariat erwartet. Von diesen drei Ideen hat der Marxismus eine bis in die letzte Konsequenz durchgeführte Erfüllung in der Sowjetunion gefunden. Auch vom Nationalismus kann man etwas Ähnliches sagen. Mit der Proklamation der vierzehn Artikel Wilsons, der Zerschlagung des österreichisch-ungarischen Reiches sowie der Konstituierung Polens, Finnlands und der baltischen Länder als selbständige Staaten hatte der europäische Nationalismus einen Höhepunkt erreicht. Der Glaube, daß die politische Freiheit in der parlamentarischen Demokratie den idealsten Ausdruck und eine unübertreffliche Gewähr finde, ist als erste der drei Ideen verhältnismäßig früh in Frankreich, dem kontinentalen Stammland dieser Idee, durch die Krise des Boulan- gismus, den Panamaskandal und die Affäre Dreyfuß erschüttert worden. Nach dem ersten Weltkrieg hat dann eine in Italien und Deutschland verbreitete Unzufriedenheit mit der angeblichen oder auch wirklichen Schwäche bestimmter demokratischer Regierungen jene Zustände gezeitigt, welche die Einrichtung autoritärer Systeme ermöglichten. In seinen ersten gemäßigten Formen hat der italienische Faschismus, was heute oft verschwiegen wird, auch in anderen Ländern Interesse und Anhänger gefunden. Nach der Katastrophe jedoch, in die der Wahnwitz der autoritären Regierungen Europa gestürzt hat, ist es begreiflich, daß man zur Idee der Demokratie mit erneuerter Inbrunst zurückkehrt, nur kommt es dem Ansehen dieser Idee nicht übermäßig zustatten, daß sehr verschiedene Regierungssysteme, die einander der Unterdrückung beschuldigten, sich gleicherweise auf die Demokratie berufen.

Inzwischen ist der marxistischen Gesellschaftstheorie von der wissenschaftlichen Kritik in ernster und heute schon fühlbarer Weise zugesetzt worden. Das sowjetische Exempel erfährt zudem die schwerste Ablehnung bei den meisten sozialdemokratischen Parteien Mittel- und Westeuropas, die für sich die richtigere Auslegung des Marxismus beanspruchen. Die Erkenntnis wird deutlich, daß das marxistische Ideengebäude — dessen Bedeutung für die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung Europas gewiß außer Zweifel steht — von der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung nicht nur überholt, sondern widerlegt wurde. Gefördert wird diese Erkenntnis durch zwei Tatsachen: die eine ist, daß das von Marx als Eigentümer und Mißbraucher der Produktionsmittel angeprangerte Bürgertum in Europa zu einem kaum mehr ins Gewicht fallenden Faktor dezimiert ist, die andere die erkannte Notwendigkeit einer gemeinsamen Abwehrfront gegen die Gefahr eines sozialen Chaos, das nicht nur bestimmt den Hungertod vieler Millionen Menschen, sondern wahrscheinlich auch einen dritten Krieg bedeuten würde.

Am widerstandsfähigsten unter den drei säkularen Ideen erweist sich noch der Nationalismus. Aber auch an seine Wurzel scheint schon die Axt gelegt zu sein. Wie sich das Privateigentum zum Nutzen der Gemeinschaft in fortschreitendem Maße Einschränkungen gefallen lassen muß, so wird neuerdings im Interesse der Menschheit und Menschlichkeit immer lauter die Forderung nach freiwilligen Konzessionen der staatlichen Souveränität erhoben. Schon die Entschließungen des verflossenen Völkerbundes zum Schutze nationaler Minderheiten wiesen in diese Richtung. Das aus der Genfer Liga von den „Vereinten Nationen“ herübergenommene Prinzip, daß zwischenstaatliche Konflikte, die den Frieden bedrohen, dieser internationalen Organisation zur Regelung überlassen werden müssen, nimmt den souveränen Regierungen das liecht, in solchen Fällen nach eigenem Ermessen vorzugehen, oder bemüht sich wenigstens, ihnen dieses Recht zu nehmen. Auf dem europäischen Festland kommt noch die sich immer stärker geltend machende Bewegung zugunsten einer breiten Staatenkonföderation hinzu. Eine solche Union würde zwar auf das kulturelle Eigenleben der einzelnen Nationen alle erdenklichen Rücksichten nehmen, aber ihr Zustandekommen würde nichtsdestoweniger dem bisher so zäh verteidigten Grundsatz des Anspruchs jeder Nation auf volle Eigenstaatlichkeit und Souveränität Abbruch tun müssen. Im übrigen ist auch die gegenwärtige Entwicklung in Osteuropa nicht geeignet, die volle Gültigkeit dieses Anspruches Aufleuchten zu lassen.

So sehen wir die politischen Ideen, die das Jahrhundert seit 1848 regierten und mehreren Generationen als unverrückbar erschienen, heute einer wesentlichen Wandlung unterworfen. Die Tatsache, daß der Ablauf der Zeit den relativen Charakter politischer Ideen erweist, mag dabei nicht so sehr unsere Aufmerksamkeit verdienen, als die Gleichzeitigkeit des Niederganges so mächtiger Grundsätze, die den Entwicklungsgang eines Zeitalters bestimmt haben und die insgesamt von diesem Zeitalter unter gemeinsamen Nenner des „Fortschritts“ subsumiert wurden. Was ist Fortschritt? könnten wir, die bekannte skeptische Frage des Pilatus variierend, fragen. Vielleicht liegt er eben darin,

daß die Freiheit von heute nicht mehr die Freiheit von gestern ist, daß der Schwerpunkt des sozialen Problems heute nicht mehr dort liegt, wo er gestern lag, und daß die europäischen Nationen ihrer Selbstherrlichkeit, in der sie noch gestern schwelgten, in der stürmischen Welt von heute nicht mehr recht froh werden.

Der von Tag zu Tag offensichtlichere Veränderungsprozeß in jenen großen Ideen, die ein Jahrhundert lang die Physiognomie Europas geprägt haben, ist möglicherweise eines der hauptsächlichsten Motive für die nun stark verbreitete Ansicht, daß Europa nicht nur eine empfindliche Einbuße an politischer Geltung erlitten hat, sondern daß es auch als ein geistiges 'Weltelement hinabgleitet wie ein fallender Stern am Augustnachthimmel. Doch warum sind dann die Augen des Erdkreises so gebannt auf dieses Schauspiel gerichtet? Weshalb beschäftigt man sich in den Staatskanzleien der großen Mächte heute fast nur mehr mit dem europäischen Problem? Aus Mitleid? Das kann einer Welt, in der ein Wetteifer um die Konstruktion der besten Atombombe entbrannt ist, nicht zugemutet werden. Aus Habgier? Wo die noch ungehobenen Schätze Indiens, Afrikas und Chinas locken, wäre diese Habgier um einen von Millionen Hungernden bewohnten Trümmerhaufen schwer begreiflich. Nein! Sondern weil das abendländische Bewußtsein hier in Europa noch immer seine Heimat hat, weil die abendländische Welt instinktmäßig ahnt, daß auf dem heiligen Boden dieses gepeinigten Erdteils ihr Schicksal entschieden wird, weil hier die bewegliche Vielfältigkeit geistiger Qualitäten alter und junger Völker sich zu einer Dynamik zusammenballt, die diesem Kontinent, wie gemindert seine politische Wirksamkeit heute auch erscheint, noch immer die ethische Führung der Welt sichert. Darum dürfen wir auch, selbst wenn die Drohung großer Prüfungen noch nicht vorüber ist, uns auf keinen Fall dem Kleinmut hingeben. Politische Ideen sprießen auf, blühen und verwelken — feierliche Fahnen flattern auf und verbleichen in Wind und Wettern —, der europäische Geist, der aus dem Christentum gestaltet wurde und nach vielen Wandlungen seiner Stilformen noch aus demselben Geistesboden schöpft, wird unüberwindlich befunden werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung