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Das Geheimnis der Legitimität

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Der willkürliche und gewalttätige Despotismus eines Diktaturregimes ist immer eine Folge seiner Illegalität. Eine legitime Regierung stützt sich auf die selbstverständliche Zustimmung der Regierten, mag es sich nun um eine Monarchie oder Republik han-den. Sie braucht nicht in ständiger Furcht vor den Untertanen zu leben, in jener Furcht, die dazu führen muß, daß die öffentliche Atmosphäre vergiftet wird. Ist aber die Macht einer Regierung illegitim, aus der Usurpation geboren und ohne die Sanktion der Jahrhunderte, steigert sich bei ihr das Mißtrauen, das allen staatlichen Beziehungen innewohnt, bis zu einem wahren Verfolgungswahn. Die Verwaltung des Staates wird dann in eine .,Maschine zur Fabrikation von Begeisterung“ verwandelt und die seltsame Krankheit aller revolutionär-totalitären Regierungen, die Raserei der Selbstanpreisung, beginnt den Staatskörper zu erfassen.

Zu diesen Erkenntnissen kommt der während des zweiten Weltkrieges verstorbene italienische Soziologe und Historiker Guglielmo Ferrero in Seinem letzten Werk „M acht. Die unsichtbaren Geister des Gemeinwesens“, einem Buche *, das ohne Übertreibung als das politische Testament eines guten Europäers unserer Zeit ange-

Erschienen in deutscher Sprache in der Sammlung „Mensch und Gesellschaft“ im Verlag A. Francke A. G., Bern 1944, 494 Seiten. Titel der ursprünglichen französischen Ausgabe Ü942): „Pouvoir. Les Genies invisibles de la cite.“ sprochen werden darf. Der große italienische Historiker, der alle Kraft der soziologischpolitischen Diagnose zeigt, die bei italienischen Denkern so oft zu finden ist — man denke nur an Machiavelli, Vico, Pareto —, leuchtet tief hinab in das abendländische Chaos, um als die letzte Voraussetzung der Wirrnisse und Umwälzungen die Krise der Legitimität aufzuzeigen, die seit bald zwei Jahrhunderten die europäische Geschichte charakterisiert. Les Genies invisibles de la cite! Was steckt hinter dieser geistreichen Formel, von der wir bei Ferrero voraussetzen können, daß sie mehr als ein blendendes Wort ist.

Gibt es tatsächlich solche nicht sichtbare, aber dennoch wirksame Prinzipien des politischen Daseins, die wir Menschen bewußt oder unbewußt, freiwillig oder unfreiwillig, verletzt haben? Worin ist letzten Endes unser politisches Elend, die Zerrüttung der staatlich-sozialen Verhältnisse im Abendland begründet? Warum ist uns das größte Glück, wie es Ferrero formuliert, die Macht ohne Furcht, vielfach verlorengegangen? Hören wir, was uns der italienische Diagnostiker unseres revolutionären Zeitalters in seinem Vermächtnis zu sagen hat.

Die Macht einer Regierung ist nur dann gerecht, wenn sie legitim ist. Legitimität aber bedeutet Übereinstimmung mit den wenigen Prinzipien, den paar Grundhaltungen, denen die Menschen folgen müssen, wenn sie das Glück einer natürlichen Ordnung genießen wollen. Die Legitimitätsprinzipien sind die Rechtfertigungen der Macht, fähig, die Macht gegen das schrecklichste Übel unempfindlich zu machen, an der sie leiden kann: die Furcht vor ihrem Volke. Und ein Regime ist dann legitim, wenn seine Macht nach den Grundsätzen und Regeln zuerkannt und ausgeübt wird, die jene, die gehorchen müssen, ohne Diskussion hingenommen haben. „Die einfachen Geister“, lesen wir bei Ferrero, „die sich begnügt haben, das Befehlsrecht mit der Achtung einiger Prinzipien und klarer, allgemein anerkannter Regeln gleichzusetzen, ohne sie einer allzu anspruchsvollen Kritik zu unterwerfen, haben das Problem der menschlichen Ordnung tiefer erschaut als die Philosophen der Wirksamkeit. Diese Prinzipien sind wirklich die unsichtbaren Geister des Gemeinwesens und die Grundlagen der allgemeinen Ordnung.“

Aber wie kann es zu ihrer Krise kommen? Wer erschüttert sie? Wie viele dieser Prinzipien gibt es überhaupt? Es ist das Verdienst Ferreros, diese Elemente, auf denen in unserem Kulturkreis das politische Leben sich aufbaut, aus dem Strom des Geschehens als Archetypen gleichsam herausgehoben zu haben. Es sind ein oder, da in der geschichtlichen Wirklichkeit je zwei dieser Elemente zusammen aufzutreten pflegen, zwei große Legitimitätsprinzipien, die den Rhythmus der abendländischen Geschichte bestimmen: das aristokratisch-monarchische Prinzip, das, mit dem Erblichkeitsprinzip verbunden, im Ancien Regime Europa beherrscht hat, und das demokratische Wahlprinzip, in dem Ferrero eine letzte Garantie vor dem Absturz in die Barbarei sieht. Diese beiden Prinzipien sind mächtige Beweger des historischen Geschehens, aber — sie haben keinen Ewigkeitswert, sie sind wandelbar, und darin beruht die tragische Dynamik der modernen europäischen Entwicklung. Sobald die Legitimitätsprinzipien „altern oder stürzen oder zerstört werden oder sich verfeinden, dringt die Furcht in den Geist jener, die befehlen, und jener, die gehorchen; die Gedanken verwirren sich, die Gefühle werden verderbt, der Krieg beginnt in jedem Gemeinwesen und zwischen den Gemeinwesen. Damit ein Gemeinwesen ohne Furcht leben und durch eine menschliche Ordnung gedeihen kann, muß es einen dieser Geister als Souverän annehmen, muß ihm treu sein und dieses Prinzip mit Redlichkeit, ohne Schliche und Ränke, verwenden. Ein Gemein wesen kann sich wei Geistern anvertrauen und glücklich sein, doch darin müssen die beiden Geister sich vereinen und zusammenarbeiten. Unglücklich das Gemeinwesen, das der Kampfplatz ist, wo zwei feindliche Geister sich eine Schlacht liefern: die Zwietracht wird ihre blutigen Krallen in seinen Busen schlagen und es zerrütten und erschöpfen.“ Und da ist es nun die Tragik Europas, daß mit dem endgültigen, nicht wieder gutzumachenden Bruch zwischen dem Geist des Ancien Regime und dem Geist der Revolution von 1789 ein Vernichtungskrieg zwischen den beiden Legitimitätsprinzipien begonnen hat, der so viel Blut gekostet hat und, wie Ferrero fürchtet, noch kosten wird. Ein einziger Großstaat in Europa hat nach Ferrero sich von diesem ■Prinzipienkrieg im jetzigen Zeitalter zu bewahren vermocht, England, die Demokratie par excellence.

Es ist nun überaus interessant, wie Ferrero den Nachweis erbringt„ daß die Legitimitätsprinzipien aus ihrer eigenen Mitte heraus verfallen. Von 1750 an verfällt der unsichtbare Geist des Ancien Regime.— Goethe hat übrigens in seiner „Natürlichen Tochter“ diese innere Tragödie des Ancien Regime erschütternd Gestalt gewinnen lassen — und Napoleon hat dann als erster versucht, durch die ungeheure und ungeheuerliche Revolution seiner illegitimen Diktatur die Leere zwischen der verschwundenen Monarchie urftl der noch unerreichbaren Republik auszufüllen. Wenn in Frankreich dann 1830 und 1848 die Monarchie endgültig fiel, so folgte das übrige monarchisch gebliebene Europa erst 1917/18. Auch diesmal zerfiel- in der Katastrophe von 1918 die europäische monarchische Welt plötzlich und von innen, ein Vakuum hinterlassend, ohne das die diktatorischen Experimente Hitlers und Mussolinis nicht zu verstehen gewesen wären. Ferrero sieht in dem Untergang des monarchischen Europas eine ungeheure Tragödie; ist doch seitdem die europäische Kultur in der Gefahr, in die Barbarei zurückzuversinken, wenn es nicht gelingt, die Grundlage in einem wieder selbstverständlich geltenden Legitimitätsprinzip zu finden. Dieses Prinzip kann nach Ferrero nur die Demokratie sein, die auf der unbedingten Achtung vor dem Wahlrecht des Volkes und auf der Anerkennung des Rechtes der Opposition beruht. „Die Opposition abschaffen, heißt die Souveränität des Volkes abschaffen.“

Der italienische Historiker, der unter Mussolini Italien verließ und nach Genf ging, weil er als einer der ersten den Faschismus als politischen und sozialen Unruheherd erkannte und bekämpfte, ist sich darüber klar, daß die Demokratie, alles in allem, eine schwierigere Regierungsform als die Monarchie ist. Die einzigen Staaten, wo nach Ferrero „das Volk regieren will, weil es gelernt hat, die Souveränität auszuüben, und wo infolgedessen die demokritische Regierung legitim werden konnte, sind England, die Schweiz, Holland, die skandinavischen Staaten“. Es ist nun interessant, daß es sich bei diesen Demokratien, von der Schweiz abgesehen, um die Monarchien handelt, die alle Krisen überstanden haben. Ferrero spricht an einer Stelle vom englischen Königtum als einer Fiktion. Wie mag es kommen, daß gerade in jenen Staaten, in denen die Monarchie — und sei es als Fiktion, als ein Element der geschichtlichen Sitte — sich erhalten hat, die Demokratie legitim, selbstverständlich werden konnte, während in anderen Staaten, die nicht die Form der demokratischen Monarchie zeigen, die Demokratie noch immer vielfach umkämpft wird?

Die Machtübertragung durch das Volk, das Recht auf Opposition und das freie Wahlrecht — darin sieht Ferrero das Legitimitätsprinzip, dem sich unsere Epoche nicht zu entziehen vermag, die tragenden Pfeiler der westlichen Ordnung. Und dann prägt Ferrero ein weises Wort, wenn er davon spricht, daß das allgemeine Wahlrecht vielleicht die letzte konservative Kraft darstellt, die noch übriggeblieben ist. Unwillkürlich denkt der Österreicher zurück an die Zeit vor vier Jahrzehnten, da Kaiser Franz Joseph L, der „letzte Monarch der alten Schule“, seine ganze Autorität für die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts gegen mächtige Kräfte im Staate in die Waagschale warf. Inzwischen hat es sich gerade in unseren revolutionären Zeitläuften gezeigt, daß die wählenden Massen zur Überraschung revolutionär gesinnter Minderheiten tatsächlich ein mächtiger konservativer Faktor sind, ein Damm gegen revolutionäre Überflutungen aus dem immanenten Ruhebedürfnis des natürlichen Menschen, der nur voll Skepsis und Mißtrauen die Parole von der schöpferischen Unruhe zu hören vermag, aus Instinkt jedes Chaos ablehnend, das nur neue Illegitimität in seinem Schöße bergen kann.

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