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Seidenfäden statt Eisenketten

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Zwei Werke von Gugllemo FerreTo: .Abenteuer“, Bonaparte In Italien (1796 bis 1797), 295 Seiten und „Wiederaufbau“, Talleyrand in Wien (1814 bis 1815), deutsch von Francois Bondy. Beide A. Francke AG, Verlag, Bern

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Zwei Werke von Gugllemo FerreTo: .Abenteuer“, Bonaparte In Italien (1796 bis 1797), 295 Seiten und „Wiederaufbau“, Talleyrand in Wien (1814 bis 1815), deutsch von Francois Bondy. Beide A. Francke AG, Verlag, Bern

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Der italienische Soziologe und Historiker Gugliemo Ferrero hatte die „große Furcht“, die nach einstimmiger Aussage hervorragender Denker übermächtig unsere Zeit beherrscht, am eigenen Leibe erfahren. Vom Italien Mussolinis vertrieben, lebte und lehrte er die letzten Jahre als Exulant in Genf. Hier an den Ufern des Lac Leman zog er die Summe aus den Erfahrungen seines Lebens und den Erkenntnissen seiner wissenschaftlichen Arbeit. Ein dreibändiges Werk entstand, das den „unsichtbaren Geistern des Gemeinwesens“ nachspürte, das sich mühte, die letzten Ursachen der großen Furcht, die den italienischen Gelehrten nicht in seiner Heimat sterben ließ, freizulegen und den Weg zu ihrer Uberwindung zu weisen. Die beiden jetzt auch in deutscher Sprache vorliegenden Bände bergen den Rohstoff, sie sind erfüllt von Untersuchungen: alles Vorarbeiten — wichtige und unablässige Vorarbeiten — die Ferrero dann in einem dritten, „Macht“ genannten und im gleichen Verlag in deutscher Ubersetzung 1944 bereits erschienenen Band seinen Königsgedanken formulieren und interpretieren ließ: die Seidenfäden, die ohne Zwang die gesellschaftliche, staatliche und überstaatliche Ordnung zusammenhalten, sind die „Legitimitätsprinzipe“ Erbfolge oder Wahl. Ihre Achtung garantiert allein Sicherheit, Ruhe und Frieden. Ihre Verletzung hingegen entfesselt unweigerlich die Dämonen der Abenteuerlust. Abenteuerlust aber zeugt Furcht — Furcht vor dem eigenen Mut und vor der Rache der Umwelt. Die Furcht ruft deshalb nach der Gewalt. Die gesteigerte Gewalt kennt wiederum nur einen Erfolg: vermehrte Furcht. Die Zeit des großen Fürchtens ist gekommen ... Nur eine mutige Tat kann, so meint es Ferrero zu erkennen, den Teufelskreis durchbrechen. Die bedingungslose Rückkehr zur Legitimität, der Wiederaufbau der zerstörten Ordnung.

Gugliemo Ferrero war in Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts und ein Historiker der Französischen Revolution. Alles, was wir erlebt haben und noch immer erleben, hat er in seiner Arbeit schon einmal geschaut. An jener großen Bruchlinie der neuen Geschichte, als die Legitimität der Erbfolge nicht mehr und die neue Legitimität der Wahl noch nicht von der Mehrheit der Menschen anerkannt wurde, hielt das Abenteuer Napoleon Bonaparte zuerst Frankreich, dann Italien und Europa in Atem. Hart spürten damals die Menschen jene schweren Eisenketten, die die Usurpation für alle, für Sieger und Besiegte, für Unterdrücker und Unterdrückte bereit hält. Der Mut zum Wiederaufbau, die Kunst. Maß zu halten auch im Siege, triumphierten durch das Werk einiger weniger — von denen den Verfasser besonders die Persönlichkeit Talleyrands fasziniert, dessen Ehrenrettung er gegen Generationen von Historikern verficht: durch den Wiener Kongreß. Der neue gewaltige Ausbruch der Furcht hat Ferrero, der während des zweiten Weltkrieges starb, überlebt. Sein Ende ist noch nicht abzusehen. Aus dem Grabe ist daher die Mahnung zu hören, wo immer heute Menschen über den Frieden, der nicht kommen will, reden, das Beispiel der Uberwinder Napoleons nicht aus den Augen zu verlieren.

Ein italienischer Patriot, ein Humanist, ein Demokrat stellt jenen von liberalen und nationalen Geschichtsschreibern so oft und so scharf kritisierten Wiener Kongreß als Vorbild eines echten Friedenswerkes dar. Eine große, eine wertvolle Erkenntnis. Erregender aber noch als die Aussage ist ihre Gestaltung. Uber dem Was steht das Wie. Ein Historiker war am Werk, der die immer spärlicher werdende Tugend besaß, die Geschichte zum Leben zu erwecken. Ein Geschichtsgestalter, kein Geschichtsschreiber war Ferrero. Nicht zwei historische Werke liegen daher vor, sondern zwei Gesänge einer mächtigen Dichtung in Prosa. ff 1 o n wird auch hier die Propaganda der Religionslosigkeit mit .spontanen“ Kundgebungen eingeleitet, an denen auch der lamaistische Klerus teilzunehmen hat, um öffentlich die Versicherung einer vollen Unterstützung der kommunistischen Reformen abzugeben. Es geht überall nach demselbenRezept, auch in Zentralasien. Kurze Zeit darauf wird jedoch von Seiten der Kommunisten unter verschiedenen Motivierungen die Beschlagnahme einer stetig wachsenden Anzahl von Lamaklöstern ausgesprochen. Militär erscheint, um die Räumung der Tempel zu erzwingen, Götterbilder und altertümliche, wertvolle Tempelfahnen werden zerstört, zum Teil außerordentlich wertvolle Bücher und deren in jahrelanger mühsamer Arbeit hergestellte hölzerne Druckstöcke verbrannt. Den Mönchen wird sodann befohlen, in ihre Heimatorte zurückzukehren.

Manchenorts, wo ein derart drastisches Vorgehn auf den offenen Widerstand der Bevölkerung stoßen würde, bedient man sich anderer Methoden: so werden alle in den lamaistisdien Tempeln vorhandenen Statuen, deren Zahl stets sehr groß ist — mit einer hohen Steuer belegt, so daß die Geldbestände des Klosters innerhalb kürzester Zeit erschöpft werden, worauf die Auflösung der Mönchsgemeinde erfolgt. Für die von den Lamas geräumten Gebäude wird von den Kommunisten dmel! eine andere Verwendung gefunden: auch wird hier häufig ein Kino der Nachfolger.

Die tödliche Gefahr kommunistischen Vernichtungswahns bewog die führenden Kreise Tibets Maßnahmen zu treffen, um die Schätze des lamaistisdien Eigentums rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Seit Wochen waren schwerbeladene Karawanen von Zentral-tibetausnach dem Südenunterwegs. Ihr Ziel war der nordindische Grenzstaat S d k k i m, wohin nicht nur der Staatsschatz Tibets, sondern auch wertvolle Kunstschätze und Bibliotheken geschafft wurden.

Der Umstand, daß nunmehr seltenes lamaistisches Schrifttum aus der Verborgenheit entlegener und nur schwer zugänglicher tibetanischer Klöster in den Wirkungsbereich abendländischer Forschung gelangt, könnte — falls rechtzeitig eine Auswertung durch die Wissenschaft gelingt — dem Fortschritt im Studium lamaistisdien Religionswesens dienen. Die Zahl der auf diesem Gebiete der Orientalistik tätigen Forscher ist allerdings sehr gering, denn die Tibetforschung ist zweifellos eines der schwierigsten Spezialfächer der Sprachen- und Völkerkunde. Österreich nimmt auf diesem Felde der Wissenschaft einen ehrenvollen Platz ein.

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