"Mehr Balance, weniger Rechthaberei"

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Er zählt zu den prominentesten Intellektuellen, Vordenkern und Nachhaltigkeits-Pionieren weltweit: Ernst Ulrich von Weizsäcker. Der deutsche Naturwissenschaftler und ehemalige Politiker fordert in Zeiten von markantem Klimawandel, Artensterben und Armut in seinem Buch "Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen" eine "neue Aufklärung". Es brauche ein nachhaltiges Miteinander unter den Menschen und radikal neue Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und Mensch und Natur. Trotz gigantischer Herausforderungen hält Weizsäcker eine ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltige Zukunft der Menschheit für möglich und umsetzbar.

DIE FURCHE: Herr von Weizsäcker, jemand hat Sie kürzlich als Koryphäe und "Gentleman" der Nachhaltigkeitsbewegung gewürdigt. Was ist erreicht und was fehlt noch für das Überleben der Menschheit?

Ernst Ulrich von Weizsäcker: Langsam setzt sich die Überzeugung durch, dass die Erde, die Lebensgrundlage für uns alle, in großer Gefahr ist. Was fehlt? Ein Bewusstsein in allen Ländern der Welt, dass die Bevölkerung endlich stabilisiert werden muss und sogar langsam wieder abnehmen. Und der Konsum sollte sich so verändern, dass die ökologischen Fußabdrücke kleiner werden.

DIE FURCHE: Sie gehen scharf ins Gericht mit unregulierten Finanzmärkten, dem Finanzkapital, unersättlichem Energieverbrauch und einem falschen Glauben an das grenzenlose Wachstum. Was ist unsere Rolle in Europa für die Welt?

Weizsäcker: Es ist eine in Europa fast unbekannte Tatsache, dass der Wohlstandszuwachs in den letzten 25 Jahren vornehmlich in Entwicklungsländern stattfand. Etwa eine Milliarde Menschen sind aus der Armut in die "Mittelschicht" aufgestiegen. Die Hauptsache, die wir zugunsten der Armen tun können, ist zu verhindern, dass Agrar-und Grundstücksspekulanten den Indigenen und Kleinbauern das Land wegkaufen oder schlicht stehlen.

DIE FURCHE: Was wären die Konsequenzen, wenn wir ökonomisch weiterwachsen wie bisher?

Weizsäcker: Der Klimawandel, insbesondere die Denkmöglichkeit eines abrupten Meeresspiegelanstiegs, ist wohl die bedrohlichste Konsequenz. Von ähnlicher Größenordnung ist das rasante Artensterben. Da geht es nicht nur um die Berggorillas, sondern auch um die Insekten. Letzteres ist die Folge des Bevölkerungswachstums verbunden mit der biozid-intensiven Landwirtschaft, die damit prahlt, die ständig wachsende Zahl Hungriger sattzumachen. Wenn die Insekten massenhaft verschwinden, gehen viele Ökosysteme kaputt. Bis diese Schäden massiv beim Menschen ankommen, kann es zwar 30 oder 50 Jahre dauern, - aber dann ist es in vieler Hinsicht zu spät, zu einer lebenswerten Natur zurückzukehren.

DIE FURCHE: Daher plädieren Sie für eine neue Aufklärung für die "volle Welt". Aber wie wollen Sie Bürger, deren Grundbedürfnisse (Wohnen, Essen, Wasser, Bildung) nicht ausreichend gedeckt sind, zum Umdenken bewegen?

Weizsäcker: Das Wichtigste ist eine Politik in Afrika, die es dort lebenden Familien wünschenswert macht, wie in Deutschland oder Japan mit einem oder zwei Kindern auszukommen. Die Vorstellung, dass der Wohlstand und die Altersversorgung mit der Kinderzahl wächst, ist für die volle Welt kompletter Wahnsinn. Und dann kann man Wohnen, Essen usw. sehr viel klima-und umweltfreundlicher machen, etwa mit Passivhäusern, die nur noch ein Zehntel der Heiz-oder Kühlkosten haben. Die Idee einer neuen Aufklärung ist ein größeres Ding. Wir müssen uns klarmachen, dass die Tugenden der alten Aufklärung -Individualismus, Egoismus, Rationalismus, Utilitarismus und damals auch Kolonialismus relativiert werden müssen. Wir müssen mehr Balance und weniger Rechthaberei und brutalen Wettbewerb in die Zivilisation bringen.

DIE FURCHE: In einem Vortrag verteidigen Sie die G20-Treffen als eine Art Bündnispartnerschaft bzw. eine "Phalanx" gegen das Kapital. Gleichzeitig verurteilen Sie die Proteste beim G20-Gipfel in Hamburg

Weizsäcker: Die G20-Tagung in Pittsburgh 2009 war von Präsident Obama als Kampfansage gegen die deregulierten Finanzmärkte gestaltet worden. Leider fehlte es an der Zustimmung vieler Länder.

DIE FURCHE: Ist also eine Art "Weltregierung" bzw. "Weltbürgerregierung" ein gangbarer Weg für Ihre Forderungen? Weizsäcker: Eine Weltregierung wird von fast niemand gewollt. In "Wir sind dran" sagen wir mit Gerhard Knies, dass jedes Land ein Kooperationsministerium einrichten sollte, dessen Hauptaufgabe die Erfindung und Entwicklung von Themen ist, die für das eigene Land und möglichst viele andere Länder Vorteile bringt.

DIE FURCHE: Die EU hat kürzlich mit Japan das neue Freihandelsabkommen "JEFTA" abgeschlossen. Die Österreichische Industriellenvereinigung erwarte sich dadurch Wachstum, Arbeitsplätze und die Sicherung der Sozialsysteme. Umwelt-und Sozialstandards sehe sie nicht in Gefahr. Ist das ein gangbarer Weg zu mehr Wohlstand bzw. besser verteilten Wohlstand?

Weizsäcker: JEFTA zu bekämpfen nützt der Umwelt auch nichts. Was wir brauchen, ist eine langsame Verteuerung der Transporte. Zunächst muss das Abkommen von Chicago aus dem Jahr 1944 gekündigt werden, das die Besteuerung von Flugbenzin im internationalen Verkehr untersagt.

DIE FURCHE: In Österreich wurde im Jahr 2018 ein neues Arbeitszeitgesetz beschlossen, das den 12-Stunden-Tag und die 60- Stunden-Woche erlaubt. Gewerkschaften laufen Sturm, Rechte und Industriellenvereinigung begrüßen die Liberalisierung. Halten Sie diese Gesetzesänderungen für sinnvoll?

Weizsäcker: Viel wichtiger als solche eher martialischen Gesetze wäre für mich die freiwillige Verlängerung der Lebensarbeitszeit; dies muss natürlich lukrativ gemacht werden. Ich bin 79 und arbeite (freiwillig) fast gleich viel wie früher und zahle mehr Steuern als ich durch die Pension einnehme.

DIE FURCHE: "Der Mensch müsse sich wieder als leidenschaftliches Wesen begreifen, das 98 Prozent seines Erbguts mit dem Schimpansen teile", sagte der Historiker Philipp Blom in seiner Rede bei den Salzburger Festspielen 2018. Hat Blom recht?

Weizsäcker: Bloms Rede war toll. Aber Leidenschaft macht die Weltlage nicht besser.

DIE FURCHE: Existenzängste, Arbeitsdruck und individuelle Identitätskrisen, angeheizt durch die Globalisierung, eine Renationalisierung und politisches Demagogisieren rechter und linker Politiker, treiben viele Menschen rastlos vor sich selbst her. Erkennen Sie für diese Ängste und Rastlosigkeit eine nachhaltige Therapie?

Weizsäcker: Nationalismus ist kontraproduktiv. Isolierte Länder sind die Verlierer. Der Zorn der Neonationalisten auf die Finanzeliten ist verständlich, aber Ausklinken und Volkszorn machen die Lage kein bisschen besser. Ich plädiere eher für eine Allianz der Regulierer der Finanzmärkte zur Durchsetzung einer (sehr kleinen) Kapitaltransfersteuer, die niemandem schadet außer den Spekulanten, die ihre Milliardentransfers in Millisekunden abwickeln.

DIE FURCHE: Der populäre deutsche Philosoph Richard David Precht fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen, der dm-drogerie markt-Gründer Götz Werner detto. "Geld ohne Gegenleistung mache Menschen nicht länger erpressbar", sagte Werner gegenüber einer österreichischen Tageszeitung. Was halten Sie von einem bedingungslosen Grundeinkommen?

Weizsäcker: Ein Land mit einem stattlichen bedingungslosen Grundeinkommen wird zu einem Magneten für arbeitslose und perspektivlose Einwanderer. Wenn das Land selbst schon sehr dicht bevölkert ist, ist es in Versuchung, mit einer gnadenlosen Abschottung zu antworten. Dieser peinliche Aspekt wird in den Diskussionen über das Grundeinkommen gern ignoriert.

DIE FURCHE: Papst Franziskus klagt in seiner Umweltenzyklika "Laudato si" über eine "Wirtschaft, die tötet". Er prangert wie Sie den Anthropozentrismus und den praktischen Relativismus unserer Zeit an. Welche Wirtschaft und welche Unternehmer brauchen wir?

Weizsäcker: Am besten wäre eine weltweite Einigung darauf, dass Betriebe mit destruktiven Tendenzen sehr hohe Abgaben zahlen müssen. In anderen Worten: Die Souveränität der Staaten (wie der Caymaninseln) muss eingeschränkt werden. Paradiese für Steuervermeidung und andere Räubereien darf es nicht geben!

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