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Wahrsager haben jetzt Hochsaison

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Stalins Zeit will in Rußland niemand mehr haben, obwohl Stalins Kopf im Wahlkampf eifrig herumgetragen wurde. Wohin steuert das Riesenreich?

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Stalins Zeit will in Rußland niemand mehr haben, obwohl Stalins Kopf im Wahlkampf eifrig herumgetragen wurde. Wohin steuert das Riesenreich?

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Die Präsidentenwahlen in Rußland begannen am 10. Juni in Tadschikistan. Dort - im unabhängigen Staat - sind russische Truppen an der Grenze zu Afghanistan stationiert. In acht der fünfzehn Wahllokale für die Truppen gaben am 10. Juni 90 Prozent der Wahlberechtigeten ihre Stimmen ab. Mit der Auszählung wurde am 16. Juni begonnen.

Die Stationierung dieser Truppen ist nur ein Beispiel für die kaum durchschaubaren Verhältnisse im ehemaligen Sowjetreich. Wenn sich bei uns Politiker darüber beklagen, daß sie den Überblick über die Situation in Bußland verloren haben, so kann man sie „beruhigen” - auch in Bußland blickt niemand mehr durch.

Vor ein paar Jahren verglich man die Situation in Bußland mit der „Smuta”. „Smuta” (Ende des 16./An-fang des 17. Jahrhunderts) war eine Zeit der Machtkämpfe, Bürgerkriege, des allgemeinen Chaos gewesen. Nachdem Schirinowskij 1993 seinen Wahlsieg gefeiert hatte, wurde in Moskau die Lage mit dem Wort „Weimarer Verhältnisse” charakterisiert. Gemeint wa: damit die politi sehe Lage in Deutschland vor dem Machtantritt Hitlers. In jüngster Zeit wird zum Vergleich das Ende der Zarenherrschaft herangezogen. Damals gab es zwar auch schon ein Parlament (Duma), aber die Macht lag in der Hand des Zaren, der die Duma mehrfach aufgelöst hat. Am Bande eine Bemerkung: Jelzin wird heute gerne spöttisch als „Zar Boris” bezeichnet.

Seitdem 1995 der Wahlkampf für die Duma begonnen hat, haben die Karikaturisten in Bußland eine Kette von Karikaturen verbreitet, die man als eine Mischung von schwarzem Humor und absurdem Theater bezeichnen kann. Da wird gehauen und gestochen, betrogen und manipuliert, gedroht und eine lichte Zukunft versprochen. Eine Karikatur in den „Mo-skowskie nowosti” (Nr. 8/96) zeigt ein Fahndungsfoto der Polizei, das von einem Präsidentschaftskandidaten mit dem Streifen „Wählt mich” überklebt wird. Nach soviel Schwarzmalerei muß jedoch man jedoch unterstreichen: Wahlen im ehemaligen Sowjetreich sind ein Schritt in Bichtung auf eine Demokratie hin. Gorbatschow, der kein Mehrparteiensystem wollte, hat die Bewegung in Gang gebracht. Jelzin - sein Rivale und Nachfolger in Rußland - hat sie in die Praxis umgesetzt. Das ist ein Schrittchen in Richtung Demokratie. Der Weg zu einer funktionierenden Demokratie in Rußland ist noch weit. Es fehlt eine demokratische Tradition. Darum muß man auch sehr behutsam sein, wenn man westliche Begriffe für die Verhältnisse in Bußland anwendet. Eine Partei in Bußland kann nicht gleichgesetzt werden mit einer Partei in einer westlichen Demokratie. Eine echte Gewaltenteilung gibt es heute nicht in Bußland. Spöttisch wird Jelzins Präsidialkanzlei mit dem einstigen Politbüro verglichen, denn die Regierung ist an diese Präsidialkanzlei angehängt und nicht etwa ein vom Parlament abhängiges Organ.

Nachdem 1990 die Zensur aufgehoben wurde, hat sich die Meinungsbefragung etablieren können. Ununterbrochen veröffentlicht eines der Institute seine Ergebnisse: Welche Institution wird von der Bevölkerung am meisten geschätzt? Wieviele Menschen in Bußland glauben an Gott? Wer wird wem seine Stimme geben? Und so weiter, und so weiter. Leider sind die Ergebnisse teils widersprüchlich, teils sehr kurzlebig. Spötter haben bereits gelästert, man könne genauso gut zu einer der zur Zeit berühmten Wahrsagerinnen gehen.

Bis Mitte Mai lag der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten an der Spitze oder auf gleicher Höhe mit Jelzin. Seit Mitte Mai liegt eindeutig Jelzin an der Spitze. Er hat die Wahlkampagne genutzt, um durch Versprechungen, Bente-nerhöhungen, Verhandlungen mit den tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern Pluspunkte zu sammeln. Eine Karikatur in der „Iswesti-ja” (9. Februar. 1996) stellt eine Demonstration dar. Die Demonstranten tragen ein Transparent „Da Geld nur ausgezahlt wird vor Wahlen, fordern wir, daß Wahlen in jedem Monat am 5. und 25. durchgeführt werden.”

Bei einigen Wählergruppen konnte man ihre Wahl einigermaßen zutreffend voraussagen: Bentner und alte Parteimitglieder würden in der Mehrheit für Sjuganow stimmen. Das trifft wahrscheinlich auch für zahlreiche Angehörige der Streitkräfte zu. Die Stimmabgabe für Sjuganow darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit einer Zustimmung zum Kommunismus alter Prägung. Stalins Zeit will kaum jemand wieder haben, obwohl Stalins Kopf auch im Wahlkampf eifrig herumgetragen wurde - zusammen mit Lenin. Und in Sjuganows Partei sind sicher nur zehn Prozent alteingefleischte Kommunisten. Die Stimmabgabe für Sjuganow bei der Dumawahl im Jahre 1995 war vor allem eine Protestwahl gegen die wirtschaftliche Lage, die zunehmende Kriminalität und das Absinken Rußlands aus dem Rang einer Großmacht.

Allgemein wurde von Fachkundigen in Rußland davon ausgegangen, daß der erste Wahlgang keinen eindeutigen Sieger erbringen wird. Von den rund 150 Millionen Rürgern Ruß -lands waren rund 107 Millionen wahlberechtigt. Man schätzte, daß etwa 65 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne gehen werden - also etwa gleichviel wie bei der Dumawahl. Erst im zweiten Wahlgang würde Jelzin dann gewinnen.

Ris dahin wird der Wahlkampf in den Medien sich fortsetzen. Während die Printmedien - je nach politischer Richtung - mit Eifer und Genuß die abgelehnten Parteien bekriegen, ist das Fernsehen eher langweilig. Da werden lange Monologe abgespult. Dem Hauptprogramm Ostankino I wird vorgeworfen, daß es einseitig für Jelzin Partei ergreife. Der Sieg der

Kommunisten in der Dumawahl 1995 wird von Fachleuten übrigens nicht dem Wahlkampf in den Medien zugeschrieben, sondern der straffen Organisation der Kommunisten, die ihren alten Apparat benutzen konnten.

Als die Dumawahlen 1995 den Kommunisten eine große Zahl von Sitzen in der Duma brachten, sagte man: „Das ist noch nicht entscheidend, die Entscheidung fällt erst in der Präsidentenwahl.” Was ist damit gemeint? Die Stellung des Präsidenten in Rußland wird von der jetzt gültigen Verfassung Rußlands so hoch angesetzt wie in kaum einem anderen Land einer Demokratie.

Er wird direkt vom Volk gewählt. Er setzt seine Regierung zusammen. Natürlich ist er dabei auf eine Zusammenarbeit mit der Duma angewiesen. Gesetze der Duma kann er jedoch durch ein Veto abblocken. Die Duma kann ihn nicht stürzen. Er kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen die Duma auflösen. Und er kann über den Kopf der Duma hinweg durch Dekrete regieren. Nun muß man zur Erklärung gleich hinzufügen, daß weder Gesetze noch Dekrete in Rußland die gleiche Bedeutung haben wie in einer westlichen Demokratie. Was man im vorigen Jahrhundert spöttisch so formuliert hat: „Die Gesetze in Bußland sind außerordentlich streng - aber sie sind nicht verbindlich”, das gilt auch heute noch.

Sollte Jelzin gewinnen, so wird er gezwungen sein, auf die patriotischen Gefühle und Feindbilder Rücksicht zu nehmen. Unter anderem bedeutet dies die Zurückweisung einer Ausdehnung der NATO. Sollte Sjuganow gewinnen, so wird er sicher weder die alte Planwirtschaft wieder einführen, noch die Verfolgung der Kirchen wieder aufleben lassen. Er wird jedoch den Wirtschaftskurs abändern, jegliche Einflüsse aus dem Westen abbremsen, Druck auf die einstigen Sowjetrepubliken ausüben - und natürlich das Recht Rußlands, als Großmacht anerkannt zu werden, lauthals propagieren (mit selbstverständlicher Zurückweisung der NATO-Ausdeh-nung).

Gäbe es heute noch Radio Jerewan und würde ihm jemand die Frage stellen: „Befindet sich Rußland auf dem Weg zur Demokratie?” so würde Radio Jerewan wahrscheinlich antworten: „Im Prinzip Ja! allerdings kennen wir den Weg nicht.”

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