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Algier und Casablanca

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Die ganze Tragweite der algerischen Unabhängigkeit beginnt sich erst allmählich abzuzeichnen. Der endgültige Rückzug Frankreichs vom afrikanischen Kontinent, der am 3. Juli 1962 Ereignis geworden ist, hat nicht so sehr ein „Vakuum“ hinterlassen, wie dies seine Gegner von der europäischen Rechten glaubten voraussagen zu können; er bildete vielmehr den Auftakt für eine Auseinandersetzung, die nach dem „siebenjährigen Krieg“ zunächst auf inneralgerischer Ebene zur Austragung gelangt, deren Bedeutung aber über die Regelung der Machtverhältnisse im neuen Algerien freilich ebensosehr hinausgeht wie seinerzeit die erste Phase der Auseinandersetzung im Kongo. Übrigens haben beide Ereignisse indirekt miteinander zu tun: Bekanntlich führte ja der weltpolitische und namentlich auch innerafrikanische Widerstreit der Gegensätze während der Kongokrise zu jener Konferenz von Casablanca, wo sich Anfang Jänner des Vorjahres Marokko, Mali, Guinea, Ghana, Ägypten und die provisorische Exilregierung des nunmehr selbständigen Algerj^nsi.zur.GrjffPc der sogenannten „Casablanca-Staaten“ zusammenschlössen. Dieser Zusammenschluß,,^ in der Folge auch zur Schaffung gemeinsamer Institutionen führte, wurde selbst von ernsthaften Beobachtern lange als „Schimäre“ abgetan. Zu groß wären die räumlichen Entfernungen und lokalen Verschiedenheiten, zu gering das faktische Potential und die gemeinsamen Interessen der beteiligten Staaten, um in ihrem Zusammenschluß mehr erblicken zu können als ein durch die augenblickliche Situation bedingtes Zweckbündnis.

Ein Blick auf die heutige Landkarte der Westhälfte Afrikas wird in der Bewertung solcher Ansichten zu größerer Vorsicht mahnen. Schon etwa bilden die Staatsgebiete von Marokko, Algerien, Mali und Guinea eine gewaltige, zusammenhängende Landmasse, die gegen Westen wiederum hauptsächlich zwei potentiell zu ihr gehörige Länder, das von Marokko beanspruchte Mauretanien und den von Mali abgefallenen Senegal, umschließt. Gewiß trennt den „arabischen Westen“ vom westlichen Sudan das ungeheure Wüstenmeer der Sahara, in dem die effektive Ausübung der nationalen Souveränität den Einsatz bedeutenderer finanzieller und technischer Mittel erfordern mag, als sie sämtlichen jungen Staaten heute zur Verfügung stehen. Was diese freilich kaum daran hindern wird, die dafür nötige Hilfe gegebenenfalls dort zu suchen, wo man sie ihnen anbietet. Stärkere Bindungen

Geschichtlich wie kulturell verbindet Marokko und Algerien, Mali und Guinea jedenfalls mehr, als gewöhnlich wahrgenommen wird. Die beiden westafrikanischen Länder sind wie die berberisch-arabischen des Nordens überwiegend islamisch, und der Islam hat durch ein Jahrtausend eben von Maghr reb her Eingang in diesen Teil des schwarzen Afrika gefunden. Wer sich in die Geschichte des Westsudan vertieft, wird auch bald entdecken, daß die Sahara in der Vergangenheit nicht nur eine Zone der Trennung zwischen dem „weißen“ und dem „schwarzen“ Afrika gewesen ist, sondern ebensosehr eine verbindende Funktion hatte, solange der alte Karawanenhandel mit dem Mittelmeerraum, bis zur Erschließung des Seeweges nach der Guinea-Küste, blühte. Die mittelalterliche, westsudanische Zivilisation hatte ihre Zentren teilweise eben in den südlichen Endpunkten dieser Karawanenstraßen, wie Djenne oder Timbutku. Mag man geneigt sein, diese Dinge im technischen Zeitalter als eine historische Reminiszenz zu werten, sie haben doch eine unleugbare kulturelle Gemeinsamkeit hinterlassen, die zudem der voreuropäischen Zeit zugehört.

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