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Kettenreaktion des Abfalls

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Die koloniale Ära wiederum hat ihrerseits neue Gemeinsamkeiten begründet, zuvorderst durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum französischen Imperium mit dem unverkennbaren Stempel ,*eine{. lange betriebenen Assi-1 milationspolitik, endlich aber auch im Prozeß ihrer Emanzipation unter dem geistigen Einfluß der französischen Linken, nach organisatorischen Modellen der „Resistance“, und im Zuge einer Kettenreaktion: Der Aufstand in Algerien besiegelte die Aufgabe Marokkos durch Frankreich und brachte das verfassungsmäßige Reformwerk im schwarzen Afrika mit in Gang. Die Autonomie bereitete den Abfall Guineas vor, und dieser erschütterte das Konzept einer weiteren Staatsgemeinschaft Frankreichs und seiner afrikanischen Kolonien in seinen Grundfesten. Mali erhob die Forderung nach Souveränität und das ganze vordem französische Afrika folgte. Die Aufgabe Algeriens durch Frankreich war die letzte Konsequenz. All dies hat, seit dem 1. November 1954, weniger als acht Jahre erfordert.

Bald nachdem Frankreich 1956 als erster sein Protektoratsverhältnis über Marokko beendet hatte, spaltete sich die organisierte nationale Bewegung in einen „rechten“ und einen „linken“ Flügel, deren Repräsentant der heutige Istiqlal und die „Nationale Union der .Volkskräfte“ .wurden. Vor allem der Umstand daß Marokko kein einfacher Nachfolgestaat des französischen Kolonialreiches und die Loyalität zur Krone ein verbindliches Symbol der wiedererrungenen staatlichen Selbständigkeit war, hat ein Austragen dieser Gegensätze vertagt, ohne doch sie selbst aufheben und die ihnen zu Grunde liegenden sozialen Probleme lösen zu können. Es scheint heute aber so, als könnte die Entwicklung im benachbarten Algerien in Hinsicht auf eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse etwas weiter gehen und hier jener Modellfall der sozialen Revolution im nordafrikanischen Raum Wirklichkeit werden, dem der Nasserismus in Ägypten oder der afrikanische Sozialismus vom Typ Guineas in Westafrika zustrebte. Es ist also kein Zufall, daß die Casablanca-Staaten die Außenminister eben der beiden westafrikanischen Mitglieder Guinea und Mali zur Vermittlung zwischen den streitenden Führern des FLN delegierten; nicht nur, weil sie als Nichtaraber keiner unmittelbaren Parteinahme verdächtigt werden konnten, sondern auch als Vertreter von befreundeten Staaten, deren politisches Konzept bereits in einer monolithischen Organisation auf dem Wege zu einer durchaus uneuropäischen Form des „sozialistischen“ Staates Ausdruck gefunden hat.

Die „Casablanca-Staaten“ haben sich selbst auch eine Reihe gemeinsamer Institutionen gegeben: Ein politisches Sekretariat in Bamako (Mali), eine Entwicklungsbank in Conakry (Guinea), ein Kulturkomitee in Tanger und eines für den gemeinsamen afrikanischen Markt in Casablanca. Aus der Zeit des Kongo-Streites existiert auch noch ein gemeinsames afrikanisches Oberkommando unter einem ägyptischen Befehlshaber in Ghana, das im Augenblick funktionslos ist, aber doch einem gleichgestimmten Wollen auf diesem Gebiet Ausdruck verleihen kann. Nicht so sehr die aktuelle, als die intentioneile Bedeutung dieser Institutionen hat Gewicht. Sie weist durch die Gruppierung einer wachsenden Anzahl gleichgestimmter Länder auf die mögliche Verwirklichung einer Form der erstrebten „afrikanischen Einheit“ hin, deren Lager in den nächsten Jahren noch weiter wachsen dürfte.

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