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Der spielende Mensch

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Gemeinhin läßt man das Spiel als einen einzelnen Kulturfaktor unter vielen gelten und bekundet schon aus dieser quantitativen Voraussetzung kein allzu großes Interesse am Wesen und an der Funktion des Spiels. Spärliche Untersuchungen über Einzelheiten erschöpfen die Beschäftigung mit dem Gegenstand. Der wissenschaftlichen Forschung, Betrachtung, Deutung und Erkenntnis ist das Spiel als universale Erscheinung aber vor allem deswegen entgangen, weil es unserem rationalistischen Zeitalter wesensfremd und unverständlich ist. Homo ludens, der spielende Mensch, ist für das ökonomisierte Denken eine überflüssige Erscheinung, die man als geduldetes Übel nur gelten läßt, soweit sie zur Gewinnung rational erfaßbarer Kräfte unvermeidbar ist.

Johann Huizinga, der bekannte holländische Kulturphilosoph, der sich nicht auf den ausgetretenen Pfaden der rationalistischen Kulturwissenschaft bewegt, hat diese Auffassungen beiseite gelegt. Er öffnete mit seinem vor Kriegsausbruch zum erstenmal erschienenen und“ jetzt wieder neu herausgegebenen Essai über den spielenden Menschen das Tor zu einer ganz neuen und viel umfassenderen Betrachtung des Spiels und seiner Sphäre. Für ihn handelt es sich nicht darum, „welchen Platz das Spielen unter den übrigen Kulturerscheinungen einnimmt, sondern inwieweit die Kultur selbst Spielcharakter hat“. Seine 3etrachtung — gewonnen aus vielseitigen Untersuchungen — ist demnach eine völlige Umkehrung der bisherigen, das Spiel verniedlichenden Bewertung: das Spiel ist seiner Uberzeugung nach nicht ein Element der Kultur, sondern die Kultur ist ein Ergebnis des Spiels. Uber-spitzungen solcher Art pflegen zu erschrecken und Huizinga selbst führt Beispiele für heitere Mißverständnisse an, die daraus entstanden, daß man seine Begriffsbildungen absolut nicht verstehen wollte.

Huizinga ist aber Von der Art jener Denker, die nicht mit ungewohnten und überraschenden Wendungen verblüffen wollen. Er kann seine Ansicht auf ein sehr wohlbegründetes Fundament stellen und für seine Hypothese so zahlreiche Beweise erbringen, daß sich das Ungewöhnte seiner Formulierungen als eine Bereicherung der wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis und als eine sehr notwendige Absage ah Öle flache rationale Denkweise der gegenwärtigen Epoche erweist. Seine Einsichten in das Wesen und die Funktion des Spiels offenbaren überdies bei zeitkritischer Anwendung auf die heutige Kulturlage schwerwiegende psychologische und soziale Erkrankungserscheinungen; so daß seine Untersuchung sich als ein hochwertiges Hilfsmittel der geistigen Diagnose und Therapie im Ringen mit den zahlreichen Verfallserscheinungen erweist.

Das Spiel ist eine Realität. Eine Realität, die weder Materie ist noch an die Logik gebunden ist und dem reinen Verstand als etwas Uberflüssiges erscheint. Das Spiel bezeugt den überlogischen Charakter unserer Existenz im Kosmos. Mit den Mitteln der Zweckbestimmtheit ist es nicht zu begreifen, sondern eigentlich nur zu zerstören. Es ist nicht einfach das Gegenteil von Ernst, sondern umfaßt Ernst und Heiterkeit als Ganzes auf einer übergeordneten Ebene, auf der es sich als eine Funktion des Lebenden, als durchaus alogische, aber vitale Erfüllung von Rhythmus und Harmonie darstellt.

Unter den zahlreichen Merkmalen des Spiels ist besonders kennzeichnend, daß es einer inneren Ordnung unterliegt, aus der die Spielregel entsteht, ohne die das Bild des Spiels in sich zusammenstürzt. Das verleiht dem Spiel, das aus dem Bereich des Individuums heraustritt und zugleich -drängt, einen sozial integrierenden Charakter. Das Spiel schafft soziale Gebilde und bildet ihr inneres, letztlich nicht faßbares Bindemittel.

Die Formen des Spiels sind unendlich vielfältig und schon das allein weist auf eine weitaus bedeutendere Rolle des Spiels im Leben hin, als man üblicherweise annimmt und gelten läßt. Vom Reifenspiel der Kinder bis zum Bühnendrama, vom kultischen Mysterienspiel bis zum Gesellschaftstanz, von den studentischen Ümgangssitten bis zu den jahreszeitlichen Volksbräüchen, vom Ritterturnier bis zum Lotteriespiel, vom Liebesspiel bis zu den sportlichen Wettkämpfen umspannt das Spiel unendliche Bereiche menschlicher Betätigung. Aber alles-das, was wir im eigentlichen Sinn als Spiel empfinden - die Wort- und Sprachspiele, die Denk- und Rätselspiele, die Volksbräuche, Moden und Gesellschaftsformen, die Wett-und die Glückspiele, die sportlichen und die Kampfspiele, das Schauspiel in allen seinen Formen, die kindlichen und die erotischen Spiele, die Kult- und Sakralspiele — kurz alle diese Spielformen ergeben noch nicht die Gesamtbedeutung des Spiels im menschlichen Dasein. Sie entsteht dort, wo in vielverästelten Ubergängen das „Als ob' des Spiels — die bewußte oder ahnende Vorstellung, daß man handelt, als ob es ernst wäre: das Herausgehobensein der Spielenden aus der Wirklichkeit — in die Wirklichkeit selbst übergeht und mit dieser aus dem Streben nach Schönheit, nach Ehre, nach Harmonie usw. zu einem Ganzen verschmilzt. Im Wettbewerb äußert sich diese Einheit am elementarsten, in den Gesellschaftssitten findet sie ihre breitesten und nm stärksten bindenden, im Sakralen ihre höchsten und edelsten Formen — man denke beispielweise an die Passionsspiele, die allerdings noch immer Spiel sind, während die im Wesen durchaus „spielerischen“ Springprozessionen dem Inhalt nach schon rein religiöses Erleben und Gestalten sind.

So gesehen erkennt man, daß tatsächlich das irrationale Movens des Spiels kulturgestaltend ist. Die Regeln des Spiels werden zu den Spielregeln des „Emsts“: die Regeln des Wettkampfes werden zu den Spielregeln des Zweikampfes, zu den Regeln, nach denen sich Heere und Völker messen. Die taktischen Schachzüge zum Beispiel in den Kabinettskriegen um den Besitz des Schlachtfeldes, der oft nur durch ein „Ausmarschieren“ des Gegners erreicht wurde und den Sieger bestimmte, sind gar nicht zu verstehen ohne die Einsicht in den Spielcharakter der Kultur. Die Verbundenheit von Politik und diplomatischen Gepflogenheiten, die sich zum Beispiel in den ernsten politischen Folgen eines gesellschaftlichen Verstoßes äußern kann, verrät ebenso das Spielfundament in der Politik und in der Diplomatie. Aber nicht bloß die Spielregeln und die Lehren des Spiels dringen in den Bereich des Emsts, sondern das Spielbedürfnis selbst baut weite Gebiete der Politik, des Krieges, der Kunst, des Rechts, der Wissenschaft usw. als Spiel auf. Die Arbeit des Erfinders, die schöpferische Tätigkeit des Künstlers, die politische Auseinandersetzung sind in diesem Sinn oft selbst Spiel, ein Geschehen, das um seiner selbst willen gespielt wird, das die Akteure aus der Wirklichkeit heraushebt und sie in die Sphäre des Als ob“ versetzt. Das erklärt viele ökonomisch sinnlose Erscheinungen des Lebens. Auch die Anwesenheit des Grauens wie bei manchen blutigen Kultspielen, beim

Stierkampf, bei Hinrichtungsszenen tut dem Spielcharakter keinen Abbruch.

Huizinga begeht keineswegs die Einseitigkeit, alles und jedes in der Kultur als Spiel zu erklären. Aber er deckt mit feinem Verständnis für das Unwägbare und Alogische die Wurzeltriebe auf, die sich aus dem Spiel zu Kulturerscheinungen entwickeln. Und er führt damit zu dem wichtigen Schluß, daß die Zerstörung des Spiels und der Spielregel in der Kultur auch die Kultur zerstört. Wo die versachlichte Skepsis der Ratio zur Geltung kommt, verstummt das Spiel, weil das Spiel nur Tatsache ist, wenn man willig in seinen Zauberkreis eintritt: der Rationalist kann seinen Gegner nicht achten und ihm nach den Spielregeln der Achtung begegnen, weil der Gegner bloß eine zu vernichtende Substanz ist und das irrationale Spiel nicht verstanden wird — der Zweikampf wird zum Vernichtungskampf, in dem jedes Mittel recht ist. Auch der rationale Befehl vermag kein Spiel zu schaffen. Darum sind das rationalisierte Fest, das mit einem fremden Zweck begründete Spiel keine beschwingten und erhebenden Spiele, sondern Fronarbeit. Darum kennt der Rationalist keine Erotik, sondern nur brutale Sexualität, keine geistige Konkurrenz, sondern nur physische Ausrottung. „Wahre Kultur fordert immer und in jeder Hinsicht Fair play. Der Spielverderber bricht die Kultur selbst.“

Diese Formel enthält auch den Maßstab für Wert und Unwert unserer Zeit. Aber sie enthält auch die tröstliche Weisheit, daß die Menschheit die Misere des rationalistischen Zeitalters überwinden wird, wenn sie zur „sinnlosen Harmonie“ des Spiels und zugleich durch das Spiel zu dieser Harmonie zurückfinden wird. Dieses Zurückfinden wird sich aus dem Lebensdrang des Menschen von selbst ergeben, denn der Mensch wird sich nicht dauernd auf das Prokrustesbett von Zahl und Fahrplan festnageln lassen, er will spielen, er will sich von dem Zauberkreis des Spiels gefangennehmen lassen. Huizinga zieht diese zeitkritischen Schlußfolgerungen selbst nicht, aber sie ergeben sich aus seinem Werk als Antwort auf die brennende Frage des Tages. Er schließt sein Werk vielmehr mit dem zeitlosen Satz, daß auch das Spiel und der Gegensatz Spiel—Ernst dem sittlichen Gewissen unterworfen bleiben. Dieser Satz aber regt die Frage an, ob nicht das Spiel mit seinem inneren Streben nach Harmonie nicht selbst ein Ausdruck des immanenten sittlichen Prinzips ist?

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