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Die Weste

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Das Neueste in der Herrenmode: die Weste hat ihren Einzug in den Anzug gehalten, und dieser ist wieder die Dreieinheit von Hose, Weste und Jackett! Es ist allerdings fraglich, ob man überhaupt von einer Herrenmode sprechen kann, denn im Grunde kleiden wir uns fast so, wie Goethe 1830. Gibt es eine Herrenmode, so schöpft sie ihre Inspiration jedenfalls aus anderen Quellen als die Damenmode. Diese resultiert aus der Gestalt des neuesten Weltstars Audrey Hepburn, den Phantasien des Modeschöpfers Dior, den Dispositionen der mit ihm liierten Textilfabriken des Monsieur Boussac sowie einem Etwas, das man erotischen Zeitgeist nennen könnte und was genau so erspürt und befolgt wird wie die kommunistische Generallinie, nur daß es hier um die neue Herbstlinie beziehungsweise die neue Frühjahrslinie geht.

Das charakteristische an der neuen Herrenmode sind die engen Storchenhosen. Wer aber hat die zuerst getragen? Die Existentialisten. Existentialismus aber ist eine Philosophie. Also stammt die neue Herrenmode aus der Philosophie! Man könnte noch weitergehen. Der Existentialismus beruft sich bekanntlich auf den dänischen Denker Kierkegaard. Aber gerade der trug sehr berühmte, enge und etwas zu kurze Storchenhosen, weswegen er vom Kopenhagener Pöbel und dem Witzblatt „Corsaren“ verspottet wurde. Ob zwischen den Existentialistenhosen und jenen Kierkegaards ein Zusammenhang besteht? Dabei hat der Existentialismus mit Hosen eigentlich wenig zu tun, es sei denn, daß mit ihrer fürchterlichen Enge ein gewisser Pessimismus zum Ausdruck kommt.

Die Weste aber war mittlerweile fast ganz verschwunden. Man trug sie nur noch zum Frack und zum Smoking, also in jenen höheren Regionen, wo man sich langweilt. In der Konfektion wurden überhaupt keine Westen mehr verkauft. Warum eigentlich? War die Temperatur der Männer inzwischen gestiegen? Hatten sie wegen ständigen Telephonierens keine Zeit mehr, so eine Weste zuzuknöpfen? Jedenfalls galt es als rückständig und onkelhaft, eine Weste zu tragen. Sie war nicht sportlich.

Das Jackett und die Hose haben ja immer einen heimlichen Haß auf die Weste gehabt. So eine Hose wetzt sich ab, franst sich aus und muß immerzu gebügelt werden. Denn als Eduard VII. von England sich einmal schnell umkleiden mußte, wurde ihm versehentlich ein Paar Hosen gereicht, das vom bloßen Liegen im Kleiderstapel diese Falten bekommen hatte — was sämtliche Reporter der Welt hinaustelegraphierten. Und seitdem gibt die Welt Millionen aus für unablässiges Hosenbügeln. Und auch am Jackett nagt der Zahn der Zeit, besonders am Ellenbogen. Die Weste dagegen ist unsterblich. Hosen und Jackett hassen die Weste, weil sie von ihr überlebt werden. Und wie bescheiden sie dabei ist: läßt sie doch meist von sich nur einen Streifen sehen. Aber dafür hat die Weste einen Geburtsfehler: sie ist nur Fassade, denn hinten am Rücken ist sie nichts, bloß Seidenfutter. Sie steht nicht selbständig da, sondern füllt nur die Lücke zwischen offenem Jackett und Hose aus. Hose und Hemd kann man in der Hitze ruhig tragen, aber in der Weste ohne Jackett zu gehen, schickt sich nicht: weil man damit ein verschämtes Geheimnis preisgibt, die Kehrseite der Fassade, das bloße Futter auf dem Rücken nebst der Schnalle. In der Tat, die Weste hat eine partie honteuse, weil ihr Rücken nicht hält, was ihre Brust verspricht. So schämte sie sich dieses Teiles ihrer selbst und hielt sich von Herzen für minderwertig. Und dabei hütete sie noch ein weiteres innerstes Geheimnis, nämlich ihre innere Geldtasche, die direkt auf dem Herzen lag, so daß jemand, der beteuernd die Hand aufs Herz legte, zugleich beiläufig prüfen konnte, ob das Geld noch da sei.

Wie war es nur zu dem schamhaften Fassadendasein der Weste gekommen? Offenbar gab man hinten bloß Seidenfutter, damit es dem Rücken nicht zu heiß wurde. Und wie’s schon mit solchen dekorativen, nur halb ernstgenommenen Kleidungsstücken geht: man begann mit der Weste zu spielen. Die Phantasie bemächtigte sich ihrer, ganz wie mit der dekorativen Krawatte, die ja weder wirklich bindet noch wirklich wärmt, sondern bloß ein Gurgelornament ist mit Firmenbezeichnung auf der Rückseite. Da gab es geblümte Sammetwesten, karierte Westen, Atlaswesten, knallrote Westen und was noch alles. In der Tat, Krawatte und Weste blieben die letzten Phantasiegebilde, die Fata Morganas der saharisierten Männerkleidung. Die Weste hat ein solches Eigenleben, daß der Dichter Mörike eine bestimmte, gemütliche Menschengattung „Sommerwesten nannte:

Lieber Vetter! Er ist eine Von den freundlichen Naturen, Die ich Sonnenwesten nenne. Denn sie haben wirklich etwas Sonniges in ihrem Wesen… Und ich sah ihm so von .hinten Nach und dachte: Ach, daß diese Lieben, hellen Sommerwesten, Die bequemen, angenehmen, Endlich dock auch sterben müssen!

Jawohl, sie starben aus, sie waren für Jahrzehnte verschwunden, aber nun tauchen sie wieder auf aus der Versenkung der Schneiderbühne: karierte Tattersall westen, grüne mit Goldknöpfen, braune aus Kamelhaar, aber auch bereits samtene, geblümte… Ist es wegen des Fröstelns im kalten Kriege? Will die Welt gemütlicher werden? Man schließt doch überall Waffenstillstände und beginnt einander zu besuchen, ist es das? Wollen Westen und Osten zueinander kommen?

„Er ersann zur Weste eines Nachts die Oste. Sprach mit großer Geste, sprach: Was es auch koste, Gleichheit allerstücken — Osten für den Rücken!“

Diese Anregung verdient ein näheres Ueber- legen. Denn was machte die Weste bisher minderwertig? Ihre partie honteuse, ihr Osten: man konnte in der Hitze das Jackett nicht abwerfen, weil sonst der Osten, das bloße Futter mit Schnalle, zu sehen gewesen wäre! Darum schlage ich den Schneidern vor, schleunigst die West- Oste zu lancieren, nämlich ein Gilet aus ganz leichtem Stoff, der über den Rücken weiterläuft. Den vorderen Brustteil könnte man der Wärme halber immer noch füttern; auch müßte die Schnalle irgendwie seitlich kaschiert sein. Damit wäre ein Großes gewonnen: Brust und Rücken, Westen und Osten, wären versöhnt, und man könnte sich ruhig mit der ärmellosen Weste auf der Straße zeigen, wie man’s ja mit dem Pullover längst tut. Noch sind wir nicht so weit, noch wird häusliches Herumsitzen in bloßer Weste als Hemdärmeligkeit verspottet, wiewohl doch selbst Goethe in seiner römischen Wohnung bloß das Kamisol trug, wie wir aus Tischbeins Zeichnung wissen. Die Iphigenie wurde in Hemdärmeln geschrieben!

„Und, sieh da, kein Schneider sagte hierzu ,leider’, hunderttausend Scheren sah man Stoffe queren …”

Auch ich sehe sie. Die Einheit von Westen und Osten wäre damit nahtlos bewirkt — aus einer halbkomischen Fassade wäre ein nützliches, allseitig verwendbares Kleidungsstück geworden. Wenn Kierkegaard die Existentia- listenhose kreiert hat, warum dann nicht auch Morgenstern die West-Oste?

Tiefere Beachtung an der Weste verdienen ihre Knöpfe und ihre Aermellöcher. Diese Aermellöcher sind die tropische Zone des Anzuges, wobei Speziell kurze, korpulente Männer den unüberwindlichen Drang fühlen, ihre beiden Daumen in dieselben zu versenken: das ergibt eine selbstzufriedene, ja herausfordernde Attitüde, besonders wenn dabei die Füße gespreizt werden. In den vielen Knöpfen der Weste steckt aber auch ein erzieherischer Wert. Knöpfst du sie hastig morgens zu, so kann es geschehen, .daß, dir ncjcJjU'twJ. Knopf, übrighleibt, der keinJCnopfloch mehr hat — verwaist steht er da und murmelt verbittert:

„Du warst nun gedacht als blinkender Knopf An der Weste der Welt. Doch die Oese mißlang.“

Und so hat kein Knopf das ihm bestimmte Knopfloch gefunden, sondern ein fremdes, und alles steht schief… Hastig mußt du die ganze Sache wieder aufknöpfen und deine Arbeit von vorn anfangen. Den ersten Knopf richtig knöpfen — das ist es! Dann geht alles übrige schon von selbst. Das ist die einfache, aber tiefe Moral der Weste.

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