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Meditation über den Spazier stock

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Einige von uns haben noch die Zeit erlebt, wo es in den Romanen hieß: „Er nahm Hut und Stock und verließ das Haus.“ Heute ist diese Vorstellung kaum mehr nachzuvollziehen. Das ist eine der Umwälzungen, die vor aller Augen vor sich gehen und darum kaum bemerkt werden.

Der Gent vor achtzig Jahren, damals „Gigerl“ genannt, war ohne eine Art kurzer Bambussäule unmöglich. Der Stock war keineswegs eine Gehhilfe, sondern ein Attribut der Vornehmheit, sogar

der Wohlerzogenheit, dessen auch der soignierte Herr, der schon in das Alter eingetreten war, wo man sich übertriebener Diskretion in der Kleidung lieber befleißigt als modischer Extravaganz, nicht entbehren konnte. Sein Stock war eher dünn, war schwarz und mit Sübergriff versehen. Auch dieser schlanke Stab diente nicht als Stütze beim Gehen. Er gehörte zum Anzug wie die Weste. Graf Bobby, heute seines Adelstitels ledig und schlechtweg als%,Bob-

by“ demokratisiert, trug noch unweigerlich einen Stock, wie wir aus seiner Verzweiflung darüber wissen, daß er einen solchen, der ihm zu lang war, nicht kürzen lassen konnte: sonst hätte doch der hübsche Griff fallen müssen, weil der Stock ja oben und nicht unten zu lang war.

Woher die seltsame, heutzutage kaum noch verständliche Sitte? Es soll von vornherein unterstellt werden, daß keiner der Herren den Stock als Last empfand, er war ihnen im Gegenteil eine Quelle angenehmer Gefühle. Der Stock gab eine gewisse Sicherheit im Auftreten, er machte den vormittägigen Spaziergang zum Genuß, und die Art, wie man den Stock regierte, ließ Schlüsse auf Gesinnung und Laune zu. Man konnte ihn bei jedem zweiten Schritt aufsetzen, das verlieh Würde; man konnte ihn stolzierend nach außen schwingen und daWt Unternehmungslust bekunden; man konnte ihn durch die Luft wirbeln oder lässig über den

Arm hängen; endlich bestand die Gelegenheit, sich dandyhaft auf ihn zu stützen, ihn unter den Arm zu klemmen, wie man ein Monokel ins Auge klemmt, oder mit ihm ausschweifende Gesten zu machen. Ein Stock war für den Umgang mit Menschen so* nötig wie die Sprache selbst.

Weshalb aber, fragen wir nochmals? Nun, selbst Menschen, die sich dem Gedanken gütlicher Einigung so sehr verschrieben haben, daß sie, um eine übertriebene Formulierung zu gebrauchen, keiner Fliege ein Haar krümmen möchten, pflegen einiges Vergnügen zu empfinden, wenn sie auf vereiste Pfützen treten und die spröde Fläche leise knirschend niederbricht. Ist es kindlicher Spieltrieb oder Zerstörungslust? In jedem Falle wird ein dekompositorischer Nerv gekitzelt, was so gar nicht zum tugendhaften Friedensfreund passen will. Wobei nicht geleugnet werden soll, daß es Menschen gibt, die sich des Vorganges instinktiv oder auch

gedanklich bewußt sind und ihn meiden.

Ähnlich aber gibt es wiederum nur wenige Männer, denen das Tragen einer Waffe nicht etwas wie Bedeutung vor sich selbst verleiht. Freilich werden es sich die wenigsten eingestehen wollen. Befragen wir uns aber nur einmal ehrlich, schmiegt sich nicht eine Büchse geradezu wollüstig in eines jeden echten Mannes Hand? Wird sein Blick nicht gleich fester, seine Haltung ruhiger, wenn er die Finger um ihren Hals schließt?

Doch wollen wir es dahingestellt sein lassen, daß sich gewiß eine Menge tüchtiger Herren finden werden, die meinen, in aller Redlichkeit das Gegenteil behaupten zu dürfen. Lassen wir den Streit, wir sind doch Pazifisten und wir gestehen uns selber nur ungern ein, daß uns der Hirschhorngriff eines zivilen oder militärischen Messers an unserer Seite ganz wohlgetan hat. Es kommt darauf an, die Herkunft

des Stockvergnügens zu erforschen.

Der Stock ist, so unbrauchbar er sich im Kampf erweisen müßte, das Überbleibsel des Degens. Der Mann ist ohne Waffe Jahrhunderte, nein Jahrtausende lang, seit Bestehen der Welt, hilflos gewesen. Der Degen der Rokokokavaliere war eine der letzten Ausformungen der männlichen Angst, und der Spazierstock setzte auf seine Weise die Tradition fort, gab Ansehen und Haltung. Heute hat sich der Stock als modisches Ac-cessoire verloren, und dies um so mehr, als der Degen ehedem Zeichen des Kavalierstandes war, ohne einen solchen eben aber ein Anachronismus ist.

Das Schwert des Ritters, verfeinert als Degen des Kavaliers, verbürgerlicht als Spazierstock, ist nun zum winzigen Gegenstand geschrumpft, den man klimpernd in der Tasche trägt: den Auto-schlüssel. Eine äußerst lebensgefährliche Waffe!

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