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Aus dem böhmisdien Wien
Zu jenen Dingen, die ganz anders aussehen als vor 60 Jahren, gehört zweifellos die Stellung der Wiener tschechischen Minderheit. In der Hauptstadt der Monarchie, oder sagen wir genauer: in der Hauptsladt von Zlsleithanien lebten mehr als hunderttausend Tschechen; sie lebten, was das Schulwesen betrifft, in dauernder Frustration. Denn die liberale sowie nachher die christlich- soziale Gemeindeverwaltung stellte sich auf den Standpunkt, diese Leute hätten sich sprachlich zu assimilieren, weü ihre Sprache in Wien nicht althergebracht sei. Man dürfe sich also nicht auf das Beispiel von Prag berufen, wo die Deutschen ‘an Schulen Überfluß hatten, aber freilich seit siebenhundert Jahren lebten. Der Kampf gegen diese Praxis machte gerade die Wiener Tschechen unzufrieden miit der Monarchie, und der 28. Oktober 1918 war gerade auch für sie ein Freudentag. Heute sind die ortsansässigen Tschecheri nicht nur Staatsbürger von Österreich, sondern Patrioten; gerade ihre österreichische Staatsbürgerschaft macht sie zu freiem Tschechen, wie sie sich stoilz nennen. Und gerade weil ihre gesunkene Zahl es ausschließt, daß der angestammte deutschsprachige Charakter Wiens durch sie bedroht werden könnte, mißgönnt ihnen niemand jene Entfaltung, deren sie fähig sein mögen. Die Schwierigkeit kommt von dem Zustand des alten Vaterlandes … Symbolisch für den neuen Zustand der Dinge war das Fest, welches zum hundertsten Geburtstag des Tumerbundes „Sokol“ im Jahre 1962 in Wien- gefeiert wurde. Den fünfzigsten Geburtstag feierte der „Sokol“ Anno 1912 in
Prag; der Statthalter des Königreichs mußte alle Mühe aufwenden, um kein offen österreichfeindliches Aussehen dieses Nationalfeiertags aufkommen zu lassen. Und wenige Jahre nachher war der Aufbau der Legionen, der Verlauf des 28. Oktobers deutlich vom Geist des „Sokol“ geleitet. In Glück und Unglück bleibt mit der tschechoslowakischen Unabhängigkeit des „Sokol" Geschick vereint; von Okkupanten wird er immer verboten, und so wehte denn über dem Jahrhundertfest die Fahne des freien Österreich.
Eine Geschichte des nationalen „Sokol“ und der sozialistischen Ar- beitertumvereine ist daher eigentlich eine fast komplette Geschichte der Schicksale der Minderheit überhaupt, sie hat ein überaus interessantes Thema und ist eine überaus dankenswerte Arbeit. Wenn eine solche, sehr gründlich gearbeitete Studie nun gerade in der überhaupt beachtenswerten Reihe erscheint, die vom Münchner „Collegium Carolinum“ — sozusagen der Traditionseinheit der Prager Deutschen Uni*- versität — herausgegeben wird, dann ist das höchst erfreulich. Deutlich genug spricht die Tatsache, daß sie nicht in Prag verfaßt worden ist.
SOKOL UND ARBEITER TURNVEREINE D. T. J. DER WIENER TSCHECHEN BIS 1914. Zur Entwicklungsgeschichte der nationalen Bewegung in beiden Organisationen. Von Monika G l e 11.1 e r. Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 23. Oläenbourg, T970 11® Seiten, DM 18.—.
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