"Wir sind nicht sentimental"

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Tschechiens EU-Beitritt - ein Lebenstraum: Noch immer ist für den tschechischen Philosophen und Ex-Dissidenten jan sokol jeder Grenzübertritt ein Feiertag.

Die Furche: Was bedeutet der EU-Beitritt Tschechiens für Sie persönlich?

Jan Sokol: Sehr viel. Das ist ein Lebenstraum, der sich nicht auf den 1. Mai 2004 konzentriert, sondern ein Prozess, der seit 10 Jahren läuft und weiterlaufen wird. Für mich hat er absolute Priorität.

Die Furche: Haben Sie vor 1989 gedacht, dass Sie 15 Jahre später in der EU sein werden?

Sokol: Nein. Ich habe vor allem nicht den Umbruch 1989 erwartet. Das war für mich die große Überraschung. Aber über Europa haben wir seit jeher nachgedacht - und mit großem Interesse und Neid verfolgt, wie es sich langsam entwickelt und aufbaut. Das sieht man heute im Westen oft nicht. Man ist so daran gewöhnt, dass man den unglaublichen Wandel von Europa, das Brennpunkt von Streit und Krieg war, zu diesem fantastischen politischen Gebilde nicht sieht.

Die Furche: Aber gibt es in Tschechien nicht auch EU-Skepsis?

Sokol: Da darf man nicht immer den Journalisten glauben, geschweige denn den Politikern. Bei diesem Thema werden alle möglichen politischen Spiele gespielt. Ich persönlich kenne keinen Euroskeptiker - außer ein paar Politiker.

Die Furche: Was wird sich in Tschechien durch den Beitritt ändern?

Sokol: Wichtiger ist, was sich schon geändert hat: Zunächst sind die Grenzen offen - in den Grenzgebieten geht auch das tägliche Leben über die Grenzen. Das wird langsam normal. Und viele der Reformen, die wir hinter uns haben, wären nicht geschehen, hätte es diese Perspektive nicht gegeben.

Die Furche: Bei der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr sind Sie Václav Klaus knapp unterlegen. Wie sehen Sie das heute?

Sokol: Persönlich bin ich eher erleichtert - nicht so sehr wegen des Amtes: das würde ich wohl schaffen. Aber man verliert dabei sehr viel an persönlicher Freiheit und alles Privatleben. Doch ich hätte es mir sehr übel genommen, wenn ich die Kandidatur abgelehnt hätte.

Die Furche: Ex-Präsident Václav Havel war als Intellektueller an der Spitze des Staates eine Ausnahme - Sie, auch ein führender Intellektueller in Tschechien, wurden eben nicht gewählt. Besteht eine Kluft zwischen den Intellektuellen und der Politik?

Sokol: Politik und das intellektuelle Leben haben etwas gemeinsam, nämlich die Öffentlichkeit. Aber beide haben ganz andere Regeln und andere Ziele. Zum Beispiel: Ein Intellektueller schämt sich, zweimal das gleiche zu sagen - bei den Politikern ist das eine schiere Notwendigkeit. Aber auch das intellektuelle Leben ist sehr zersplittert.

Die Furche: Hat sich das gegenüber der Zeit im Untergrund verändert?

Sokol: Ja. Wir hatten damals wesentlich mehr Zeit, denn die Möglichkeiten waren sehr begrenzt. Wir hatten viel mehr Zeit, miteinander zu reden, zusammenzukommen. Heute hat jeder von uns viele Verpflichtungen, Tätigkeiten usw. die einen vollständig beschäftigen.

Die Furche: Zehren Sie noch von dieser Zeit des Nachdenkens?

Sokol: Unbedingt! Das war eine große Schule. Wir haben damals auch nicht die akademische Engstirnigkeit gehabt. Vielleicht kann man immer noch bemerken, dass wir uns leisten, breiter zu denken.

Die Furche: Wie geht dieses Nachdenken bei der heutigen Generation?

Sokol: Das kann ich schwer sagen. Mir scheint bei den Studenten, dass auch sie - weil sie so viele Möglichkeiten haben - sehr gefordert sind und wenig freie Zeit haben...

Die Furche: Die tschechische Gesellschaft gilt als eine der säkularsten in Europa. Wie bewerten Sie das?

Sokol: Das ist etwas komplizierter, als es scheinen mag: Ich sehe keinen großen Unterschied etwa zwischen der städtischen Gesellschaft in Frankreich oder in Böhmen. Es gibt wohl in Böhmen und Mähren Gebiete mit traditioneller Religiosität wie in Österreich oder Bayern. Aber in der städtischen Gesellschaft sind die Unterschiede in Wirklichkeit nicht so groß. Durch den Kommunismus ist in der tschechischen Gesellschaft der traditionell religiöse Anstrich verschwunden. Daraus kommen dann diese Meinungsumfragen, die meines Erachtens nur sehr Oberflächliches ausdrücken. Ich würde nicht sagen, dass ein durchschnittlicher Tscheche weniger religiös ist als ein durchschnittlicher Franzose.

Die Furche: Welche Rolle spielen die Kirchen in diesem Umfeld?

Sokol: Sie spielen eine gewisse Rolle - leider oft nicht die, die man sich wünschen würde. Die katholische Kirche hat sich unglücklicherweise in den Restitutionsstreit hineinmanövrieren lassen. Sie hat große Schwierigkeiten, junge Leute anzusprechen - das ist, glaube ich, in Österreich ganz ähnlich. Es fehlt der Mut, zu sagen, dass die alten Zeiten vorbei sind und man wesentlich radikaler umdenken sollte.

Die Furche: In welche Richtung müsste das konkret gehen?

Sokol: Ganz einfach: Wer kann heute ernsthaft sagen, er verstehe, was Erlösung heißt? Wer vermag das einem Außenstehenden überzeugend zu vermitteln? Das muss man aber schaffen. Denn die automatische Weitergabe der Religion in der Familie geschieht kaum mehr, die meisten Menschen werden davon nicht mehr erfasst. Das entscheidende Alter ist heute nicht die Grundschule, sondern die Mittelschule: Wer vermag aber dort den 15- bis 18-Jährigen etwas Vernünftiges zu sagen? Das Verständnis der Welt und des Menschen ist heute ganz anders, als beim traditionellen Katholizismus seit 300 Jahren - übrigens ähnlich bei den Protes-tanten -, der so viel Wert darauf gelegt hat, was nach dem Tod kommt. Die Religion hat sich zu sehr auf die Hoffnungen konzentriert, auf das, was uns versprochen ist. Aber sie hat sehr wenig Verständnis und Aufmerksamkeit dem geschenkt, was jeder von uns schon bekommen hat. Theologisch gesagt: Das Thema der Schöpfung wurde vernachlässigt! Mir scheint, dieses ist heute sogar wichtiger und unentbehrlich, um eine religiöse Einstellung zum Leben weiterzugeben.

Die Furche: Was soll aber der Ort der Religion im säkularen Gemeinwesen sein? In Österreich und in der EU wird diskutiert, ob Gott in die Verfassung hineingeschrieben werden soll...

Sokol: Gott gehört meiner Meinung nach nicht in die Verfassung. Christen sollten - wie es die Bilder im Neuen Testament ausdrücken - Salz, Licht, Sauerteig sein. Wir sind aber nicht mehr der Sauerteig. Das ist die Situation.

Die Furche: Die katholische Kirche hat im Kommunismus sehr viel erlitten. Diese Zeit ist vorbei, die Vergangenheit ist in zwei Richtungen aufzuarbeiten: einerseits war da auch Kollaboration, andererseits wurde die Untergrundkirche nicht wirklich rehabilitiert.

Sokol: Mir scheint, die Vergangenheit ist heute weitgehend vergessen. Vielen Leuten aus der Untergrundkirche ist nach 1989 großes Unrecht geschehen. Aber das ist einigermaßen vorbei, und die Leute müssen sich damit abfinden. Auch die Kollaboration ist kein großes Thema. Was bleibt, ist der Aderlass aufgrund der einfachen Tatsache, dass durch Naziokkupation und noch mehr durch den Kommunismus die besten Leute beseitigt worden sind - in die Emigration, ins Gefängnis... Man spürt tagtäglich, dass wenigstens zwei Generationen der geistig führenden Leute fehlen.

Die Furche: Spielt das Engagement vieler Tschechen fürs kommunistische System in die heutige Diskussion hinein?

Sokol: Die Vergangenheit Einzelner spielt keine so große Rolle. Wichtiger ist, was sie heute machen, wie sie sich heute benehmen. Der Kommunismus hat bei uns 40 Jahre gedauert: das ist ein großes Stück Leben, das ist anders als die Naziokkupation, die schrecklich, aber nur kurz war. Der Kommunismus ist auch für meine Generation mehr als unser halbes Leben.

Die Furche: Ist die Gesellschaft also mit der kommunistischen Vergangenheit einigermaßen fertig geworden?

Sokol: Die Diskussion wird nach einiger Zeit wohl wiederkommen. Aber die tschechische Gesellschaft ist nicht besonders sentimental und so sagt man sich: Lass das sein! Keine besondere Aufarbeitung in diesem oder einem anderen Sinne.

Die Furche: Tut man sich deswegen bei Begehrlichkeiten aus Österreich oder Deutschland - etwa in der Vertriebenenfrage - miteinander so schwer?

Sokol: Das würde ich nicht sagen. Man darf nicht unterschätzen, dass es da die Sprachgrenze gibt: Was man in Österreich oder in Deutschland zu hören bekommt, sind sehr punktuelle, sehr schreiende Äußerungen. Aber so ist das im Land nicht. Ähnlich ist es umgekehrt. Auch da berichten die Medien nur die extremsten Äußerungen. . Während der Präsidentschaftskampagne habe ich täglich in der U-Bahn, im Bus mit hunderten Menschen gesprochen und kein einziges unangenehmes Gespräch war dabei, obwohl man gegen mich gerade das Thema der Vertriebenen heftig ausgespielt hat. Jedenfalls für die Stadt Prag kann ich also sagen: Da ist kein Hass bei den Menschen, kein Ressentiment - und eigentlich merkwürdig wenig Angst. Selbstverständlich ist das deutsche Übergewicht in allen Bereichen eine heikle Sache, nachbarschaftliche Beziehungen sind immer heikel - man hat nie Schwierigkeiten mit Venezuela... Bei einem so mächtigen Nachbarn, kann das nie ganz symmetrisch sein.

Die Furche: Versteht man es jenseits der österreichisch-tschechischen Grenze, dass die Österreicher wegen Temelín die Grenze blockierten?

Sokol: Das versteht man wohl - aber als eine Prestigesache. Man kann das machen. Aber dann werden Sachen zu Prestigefragen - Wer wird wen demütigen? - Und da hört sich die Diskussion auf.

Die Furche: Was raten Sie, um gegenseitige Irritationen zuvermeiden?

Sokol: Es fehlt immer noch an Kontakten und Austausch, an Aufmerksamkeit auch der Medien an dem, was auf der anderen Seite geschieht. Ein Beispiel: Ein Korrespondent in Prag, der kein Tschechisch spricht, ist nicht viel wert. Und auch die tschechischen Zeitungen widmen ausländischen Themen sehr wenig Aufmerksamkeit. Ich verstehe den Widerstand gegen Temelín, aber da bleibt uns nichts anderes übrig, als eine sachliche Debatte zu führen; doch die müsste auch die anderen Kernkraftwerke betreffen - nicht nur Temelín. Sachlich ist das bislang nicht gewesen - selbstverständlich auch nicht auf der tschechischen Seite!

Die Furche: Was ist Ihre größte Sorge für die tschechische Gesellschaft?

Sokol: Was mich wirklich besorgt macht, ist der wachsende Egoismus. Heute gibt es in Europa kaum noch Nationalismen im Sinn des 19. Jahrhunderts, dafür aber wachsende kollektive Egoismen - auch in Tschechien.

Die Furche: Und was lässt Sie am meisten hoffen?

Sokol: Das ist die Erfahrung der letzten 15 Jahre: Die ist so fantastisch - hätten wir nur offene Augen, gäbe es keinen Grund zum Pessimismus! Man gewöhnt sich aber daran: Wenn ich über die Grenze fahre, dann ist das für mich immer noch ein Feiertag. Das verstehen meine Kinder und Enkel, meine Studenten schon nicht mehr.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

Nächster Länderschwerpunkt:

Slowenien - am 12. Februar in der furche.

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