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Die Krise der V. Republik

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Als der neue Ministerpräsident Raymond Barre den nach ihm “benannten Plan zur Bekämpfung der Inflation zuerst der Presse und dann der Nation am Fernsehschirm präsentierte, legte er Wert auf die Feststellung, daß die Regierung eine Wahl zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen getroffen habe. Keine Aktion des Regimes war in den letzten Jahren von solchen Geheimnissen umgeben, wie dies bei Ausarbeitung des zitierten Reformwerks der Fall war. Raymond Barre hatte sich die Mühe gemacht, sämtliche Sozialpartner zu konsultieren; aber in diesen Gesprächen wagte er fast keine Andeutungen über seine eigenen Vorstellungen. Um jede vorzeitige Indiskretion auszuschalten, erhielten die hohen Ministerialbeam-ten nur bescheidene Bruchstücke der Akten zur jeweiligen Bearbeitung. Die Regierung wollte allem Augenschein gemäß einen psychologischen Schock erzeugen und eine Zustimmung der Nation über die Köpfe der Gewerkschaften und der sonstigen wirtschaftlichen Mächte erzielen. Raymond Barre warf sein ganzes Prestige, das er als einer der ersten französischen Wirtschaftsexperten besitzt, in die Waagschale, um das vielfach gestörte Vertrauen zur Staatsführung wieder herzustellen.

Nach mehr als zwei Jahren der Herrschaft Giscard d'Estaings sind die eben getroffenen Maßnahmen eine Art Zäsur, die, ob man will oder nicht, am Beginn eines heftigen Wahikampfes steht. In wenigen Monaten werden die Gemeinderäte erneuert, und März 1978 entscheidet die Nation über die Zusammensetzung des Parlaments. Raymond Barre hat eindeutig erklärt, daß er auf keine privaten Interessen Rücksichten nimmt und selbst wahltaktische Überlegungen beiseite geschoben hat. Mag dies für die unmittelbare Durchsetzung der Reformen stimmen, so muß gesagt werden, daß der Plan Barre eine der letzten Karten des neoliberalen Regimes ist.

Die Linksparteien und die mit ihnen verbundenen Gewerkschaften vertreten die Meinung, sie würden die Legislativwahlen in 18 Monaten gewinnen und die Fünfte Republik durch eine mit Nummer Sechs ersetzen. Man erhielt gelegentlich den Eindruck, daß die derzeitige Majorität diese Tatsache als Art Fatalität hingenommen hat. Nur Jacques Chirac wollte bereits jetzt Wahlen ausschreiben und ist nach seinem kürzlichen Come-Back bereit, den Fehdehandschuh der linken Union aufzunehmen und die Gruppen der Mehrheit im Kampf gegen Kommunisten und Sozialisten anzuführen.

Die Linksparteien haben an sich kein Interesse, ein wirtschaftlich zerrüttetes Land zu übernehmen. Am deutlichsten hat dies einer der klügsten Köpfe und Ideologen der Sozialistischen Partei, Michel Rocard, ausgesprochen, der meinte, die Opposition hätte alles Interesse, die Macht in einem Staat zu übernehmen, der vollkommen geordnete Verhältnisse aufzuweisen habe. So stehen die Linksparteien vor einem Dilemma. Obwohl sie äußerlich die eben getroffenen Maßnahmen entschieden ablehnen und bekämpfen, dürfen sie keineswegs den Eindruck hinterlassen, daß sie aus Parteienegoismus an sich vernünftige Reformen torpediert hätten. Nur vertreten sie die Meinung, daß der Ministerpräsident, entsprechend dem Konzept der Regierung und des Präsidenten der Republik, nicht die eigentlichen Übel aufdeckt und die soziale und wirtschaftliche Malaise an der Wurzel anfaßt. Die schreienden Ungleichheiten in den Einkommen werden weiterhin ruhig hingenommen, lauten die Diagnosen der Oppositionsparteien.

Eine weitere Schwierigkeit bei der Realisierung des Reformwerks entsteht durch die strenge Politisierung der Arbeitnehmerorganisationen. Obwohl nur einer von fünf Lohn-und Gehaltsempfängern in den gewerkschaftlichen Bewegungen steht, sind sie ein Machtfaktor. Wenn nur zu oft Pariser Regierungsstellen auf den erfolgreichen Kampf der Bonner Bundesregierung gegen die Inflation als leuchtendes Beispiel hinweisen, vergessen sie den Umstand, daß jenseits des Rheines eine weitgehend eingespielte Sozialpartnerschaft herrscht. Mit Ausnahme der kleinen Gewerkschaft FO, die als vernünftiger sozialdemokratischer Faktor anzusehen ist, bekennen sich CGT und CFDT zu den Prinzipien cje^Klas,-senkampfes und lehnen eine pluralistische liberale Wirtschaftsordnung auf das entschiedenste ab. Bezeichnenderweise hat die CGT noch vor der Publikation des Planes Barre und ohne die Einzelheiten zu kennen, ein entschiedenes „Nein“ formulierte. Die Abwehrstellung der beiden größten Gewerkschaftszentralen wird erleichtert durch eine vielfach zu starre konservative Einstellung der Unternehmer. Natürlich gibt es in Frankreich Betriebe, die selbst an europäischen Maßstäben gerechnet eine avantgardistische Lohn- und Sozialpolitik installiert haben. Aber es handelt sich um eine kleine Minderheit und die Masse der übrigen Betriebsinhaber betrachtet derartige Versuche mit Skepsis oder lehnt sie offen ab.

Wird es dem Ministerpräsidenten gelingen, solchen Hürden auszuweichen und die Mehrheit seiner Landsleute zu überzeugen, daß von allen sozialen Kategorien Opfer gebracht werden müssen? In den letzten 25 Jahren wurden zehn umfassende Wirtschaftspläne der Nation vorgelegt. Unvergessen bleibt das Wirken des „Mannes mit dem kleinen Hut“, des Ministerpräsidenten Pinay, der 1952 eine revolutionäre Sanierung der Wirtschaft in die Wege leitete.ein Versuch, den er 1958 mit Erfolg wiederholte. Der greise Politiker —r er ist schon 85 Jahre alt — gilt weiterhin als Symbol für ein ausgeglichenes Budget und eine gesunde Währung. Vergleicht man die Experimente Pinays mit den Maßnahmen des Planes Barre, fällt auf, wie bescheiden die Rezepte des Herrn Professors sind, es finden sich keineswegs jene revolutionären Akzente, die Pinay so meisterhaft zu handhaben verstand. Aus der Kiste der klassischen Wirtschaftspolitik werden also jene Verordnungen geholt, dazu bestimmt, die Preise zu stabilisieren, die Löhne nicht unangemessen zu erhöhen, den Landwirten die Schäden zu ersetzen, die sie durch die Dürre erlitten haben und die vor dem Bankrott stehenden Sozialversicherungsinstitute zu sanieren.

So werden sämtliche Preise bis 31. Dezember 1976 blockiert, die öffentlichen Tarife bis 1. April 1977, die Steuerschraube wird bei den mittleren und höheren Einkommen angesetzt und die breite Masse der Bevölkerung durch drastische Erhöhungen, der Autosteuern und der Benzinpreise scjjpdcier^ , .Originell mag nur die Möglichkeit sein, sich der erhöhten Steuerpflicht durch Zeichnung einer fünfjährigen staatlichen Anleihe zu entziehen. Eine Reihe flankierender Maßnahmen wie Einfuhrkontingente , für Petroleum, Förderung der Exporte, Straffung der Kontrollen auf dem Devisenmarkt ergänzen die zentralen Bestimmungen.

Niemand wagt vorauszusagen, wieweit dieser Plan Barre der „Hydra“ Inflation die häßlichen Köpfe abschlägt. Die oft zitierte nationale Solidarität steht meistens auf dem Papier. Ein heiliger Egoismus triumphiert, und die meisten Bürger wünschen sich sehr laut, die staatliche Axt möge den Nachbarn treffen und die eigenen Interessen verschonen. Aus zahlreichen demoskopischen Umfragen ist abzulesen, daß die Regierung nicht mit jenem breiten Kon-senus rechnen kann, den sie sich erhofft. Aber 60 Prozent der Wähler sind auf der anderen Seite nicht bereit, einen integralen Sozialismus in Frankreich einführen zu lassen. So erwarten also Giscard d'Estäing, Raymond Barre und das um die beiden Männer geschmiedete Team, die Vernunft werde triumphieren und Frankreich vor dem Sprung in das Abenteuer einer Volksfront retten.

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