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Die Möglichkeit eines Bündnisses zwischen Christen und Sozialisten

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Noch immer gibt es Stimmen, die nach dem Anlaß einer Neuorientierung der Gesellschaftsreform fragen. Dies ist zumindest aus zwei Gründen verwunderlich: Einmal ist die menschliche Existenz in den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen bereits heute in vielen Bereichen bedroht. Zum zweiten wird eine Fortsetzung dieser Verhältnisse humanes Überlegen zunehmend gefährden. Eine Reform der Gesellschaft ist deshalb notwendig. Damit die Bestrebungen zur Gesellschaftsveränderung nicht selbst in Gefahr geraten, destruktiv zu werden, muß eine Neuorientierung sich des gesamten Schatzes der geschichtlichen Erfahrungen, der ethischen Überlieferung wie der wissenschaftlichen .Erkenntnis, zunutze machen.

Der Familienfasttag 1977 sollte mahnen, daß Millionen Menschen noch immer verhungern. Er kann auch bewußt machen, daß etwa 300 Millionen Menschen keine Arbeit finden. Es liegt ihm letztlich der Umstand zugrunde, daß 15 Prozent der Weltbevölkerung in den Industrieländern, zu denen auch Österreich zählt, rund 65 Prozent der materiellen Reichtümer der Welt für sich in Anspruch nehmen.

Destruktivität in unserer Zeit

Humanes. Leben ist auch in den Industrieländern bedroht durch Arbeitslosigkeit einerseits und einen ungezügelten technischen Fortschritt anderseits. Dabei besteht die Tendenz, Vollbeschäftigung mit ungezügeltem technischen Fortschritt zu sichern, was freilich nur bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise möglich ist. Die Kernenergie-Diskussion ist hiefür ein eindringliches Beispiel.

Humanes Überleben ist zudem nicht allein eine Frage physiologischen Standards. Ebenso wichtig sind die Bedingungen, unter denen die Menschen leben und unter denen sie miteinander in Beziehung treten. Die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse einer auf dem darwinisti- schen Prinzip des Wettbewerbs ruhenden Gesellschaft forcieren das Gegeneinander und verringern die Möglichkeit zum Miteinander, und damit auch zur Nächstenliebe. Das Ergebnis ist eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen, aber auch sich selbst.

Die Wettbewerbsgesellschaft, zumal in der Form der kapitalistischen

Marktwirtschaft, hat unbestritten ein hohes Niveau der Produktion materieller Werte hervorgebracht. Wettbewerb heißt Eliminierung des Schwachen durch den Starken. Erst der Wohlfahrtsstaat, einem nichtmarktwirtschaftlichen Prinzip, „dem Geben für einen unbekannten Dritten“ folgend, hat generell auch für die im Konkurrenzkampf Unterlegenen ein Netz materieller Sicherheit geschaffen. Dieses Netz läuft nun in Gefahr, löchrig zu werden. Die weltweite Misere des Gesundheitssystems, die Problematik der oft inhumanen Formen bürokratischer Altenbetreuung, sind deutliche Beispiele hiefür. Es läßt sich begründen, warum die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, so paradox es klingen mag, das administrative Wohlfahrtssystem mit steigendem materiellen Reichtum einer Gesellschaft in um so größere Schwierigkeiten zu bringen vermag.

Während auf der einen Seite des globalen Spektrums existenzbedrohender Mangel an materiellen Lebensvoraussetzungen herrscht, gibt es in den reichen Industrieländern für eine wachsende Zahl materiellen Überfluß, der sich systematisch an die Stelle immaterieller Werte drängt. Man mag das „Verlust der Mitte“ (Sedlmayr), „Zerfall der Werte“ (Broch) oder „Verkrüppelung der Menschen“ (Einstein) nennen, es ist dennoch manifeste Wirklichkeit, die letztlich die Sinn- haftigkeit menschlicher Existenz bedroht. Die gesellschaftliche Möglichkeit zu intensivem Miteinander und Füreinander, eine Voraussetzung humanen Lebens, wird zweifellos sowohl im materialistischen Kapitalismus des Westens als auch im despotisch-bürokratischen „Sozialismus“ des Ostens zunehmend verringert.

Menschenbild und Gesellschaftsreform

Es ist angesichts dieser destruktiven Tendenzen von größter Dringlichkeit, danach zu fragen, „wohin der Weg führt“ (Josef Taus). Nur sollte dabei nicht die Frage vergessen werden, wer bisher den Weg vor allem bestimmt. Denn noch immer sind für die Entscheidungsverhältnisse und damit für die gesellschaftliche Entwicklung jene, die, oft weit weg von unserem Land, über Kapital und Investitionen verfügen, von größerem Gewicht als der intervenierende Staat.

Für all jene, denen die christliche Ethik als Orientierung dient, mag dabei erkenntnisleitend sein, daß die den Sozialenzykliken zugrundeliegenden

Grundwerte des Personal-, Subsidia- ritäts- und Solidaritätsprinzips durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse bedroht und oft zerstört werden. Dabei ist es selbstverständlich, daß einer Reform, die die gesellschaftlichen V o raussetzungen wachsender Destruktivität zu verringern sucht, von einem „Menschenbild“ ausgehen muß. Demokratische Sozialisten nehmen bei ihren Reformen heute an einer Vorstellung vom Menschen Maß, die nicht von der Wirklichkeit der im Konkurrenzkampf Unterlegenen und Gedemütig- ten begrenzt wird, sondern sich von der Möglichkeit eines solidarischen Miteinander mit den Schwächeren leiten läßt.

Wenn diese Bedrohungen humanen Lebens existieren, dann ist auch die Notwendigkeit der Veränderung jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die Destruktivität verursachen, manifest. Da es um humanes Überleben geht, ist für die uns gegebene Zeitspanne unabhängig von der Frage des Woher und Wohin eine Möglickeit zu einem Bündnis zwischen Christen und Sozialisten gegeben. Dafür sind zwei Beobachtungen bemerkenswert: Zum ersten begnügen sich die gesellschaftskonservierenden Bemühungen um eine Grundsatz-Diskussion mit der Apostrophierung eines abstrakten „christlichen Menschenbildes“ und verzichten oft auf die Rezeption der neueren Sozialenzykliken. Und zum zweiten werden Schriften, wie H. Bü- cheles Christsein im gesellschaftlichen System (Europaverlag 1976) oder jene der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Heraus aus der Krise - wohin? Eine Anfrage betreffend unser Wirtschaftssystem (Europaverlag 1977), die die Konkretisierung des Geistes der jüngeren Sozialenzykliken versuchen, von den Verfechtern des Status quo verworfen oder geringgeschätzt.

Was bei der bisherigen „Grundsatz-Diskussion“ zuwenig erkannt wird, ist dieses: Nur jene Partei kann die politische Führung in einer Gesellschaft einnehmen, die zuvor die ethisch-intellektuelle Dominanz errungen hat. Für die SPÖ bietet sich dazu heute angesichts der Bündnismöglichkeit mit den an humanem Überleben interessierten Christen eine wichtige Gelegenheit. Freilich bedarf es dazu auch der Überzeugung der (noch) am Status quo hängenden Kräfte in Staat, Wirtschaft, Gemeinden, Sozialversicherungsinstitutionen, die aus den eigenen Reihen kommen und selbst Anteil an der Destruktivität in unserer Zeit haben.

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