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Die Region als Einheit

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Das Thema der heurigen wieder erfolgreich absolvierten Bregenzerwälder Kulturtage lautete: „Regionalismus? - Internationalismus? Spannung und Ausgleich zwischen regionalen Interessen und überregionalen Notwendigkeiten“!

Die Kulturtage selbst waren immer schon ein Beispiel dieser Thematik. Sie sind wohl ein regionales Unternehmen, doch lenken sie den Blick auf überregionale bis internationale Probleme, wie die bisherigen Themenstellungen zeigten: Ideologie, Massenmedien, Fragen aus Naturwissenschaft und Kunst.

Die Stichworte, die im Verlauf der Vorträge und Diskussionen fielen, machten klar, daß „Region“ und „Regionalismus“ nicht nur geographisch verstanden werden können: ideologischer Regionalismus und nationaler Regionalismus, Zentralismus und Föderalismus, zentrale Verwaltung und dezentrale Mitwirkung, Unterstützung nationaler wie ideologischer Minderheiten, Provinzialismus (Balkanisierung) bis Kirchturmpolitik; Wachsen des Regionalbewußtseins zu Identitätsfindung, Kleingruppen, die die Allgemeinheit unter Druck zu setzen versuchen; Einschränkung staatlicher Gewalt durch die Ethik individueller Selbstbestimmung.

Schließlich setzte der Schlußvortrag einen besonderen Akzent, indem er dem Europagedanken vor den anstehenden Europawahlen Ausdruck verlieh. „Sollen nun die Herrschenden planen oder die Planenden herrschen?“ war die Frage, die immer wieder auftauchte.

Bereits der Einleitungsvortrag von Univ.-Prof. Dr. Werner Becker vom Institut für Philosophie an der Universität Frankfurt führte aus, daß qualifizierte Neugründungen der Macht der Mehrheit gegenüber der bloß quantitativen Mehrheit einen Wandel des Demokratieverständnisses herbeiführen, d. h. daß bloße zahlenmäßige Mehrheiten, gar noch, wenn sie knapp über 50% liegen, noch gar nicht ein sogenanntes Gemeinwohl oder einen Wahrheitsanspruch begründen können.

Gruppen mit moralischen oder ideologischen Ansprüchen werden das nie akzeptieren. Vielmehr geht es in der parlamentarischen Demokratie, in der Oppositionsparteien eine Rolle spielen, um Machtinteressen und -konflikte, die von Gruppen, also Regionen im übertragenen Sinn, angemeldet werden, die von der Wichtigkeit ihrer Funktionen ihr Schwergewicht erhalten.

Der zweite Vortrag von Dr. Henning Eichberg vom Institut für historische Verhaltensforschung der Universität Stuttgart unterstrich das, wenn er auf die Existenz eines „inneren Kolonialismus“ in den modernen Staaten aufmerksam machte, die mit ihrem Zentralismus Provinzen, Regionen, Minderheiten aus wirtschaftlichen oder politischen Interessen zu unterdrücken versuchten. Der Regionalismus durchbricht hier Superstrukturen und schafft so Voraussetzungen demokratischer Selbstbestimmung.

Höchst interessant und bedenkenswert waren die Zitate, die Eichberg von Immanuel Kant und aus dem sozialdemokratischen Manifest von 1868 („An das arbeitende Volk in Österreich“) brachte, die aus der Begeisterung für Republik und Demokratie prophezeiten, daß es nun keinen Krieg mehr geben werde (Kant) und daß die Arbeiter der verschiedensten Nationalitäten nebeneinander und miteinander kooperieren würden. Schon ein Jahr nach Kants Prophezeiung zogen 1796 die französischen Truppen in den Krieg, und spätestens nach fünfzig Jahren brach der multinationale Habsburgerstaat in seine nationalen Bestandteile auseinander.

Heute entdeckt gerade die Linke bis zur radikal Linken nationale Regionalismen, selbst in Rußland wachsen diese Probleme. Die „grünen“ und jugendlichen Gegenkulturen zeigen, worum es geht: nicht um wirtschaftliche Interessen der größeren Produktion und des Mehr-Habens, sondern um die eigene Identität gegen die Entfremdung. Vor allem aber geht es um die Freiheit: staatliche Einheit mit ihrem Bürokratismus bringt noch keine demokratische Freiheit, kleinere Einheiten machen erst Demokratie möglich.

Regionalismus bezweckt, führte nun Univ.-Prof. Josef Kühne vom Institut für Rechtswissenschaft an der Technischen Universität Wien aus, politische Artikulation, Gefühl der Nachbarschaft, Partnerschaft, Identifikation. Allerdings wies er auch auf das dichte Netzgefüge vieler Beziehungslinien hin, die aus dem Regio nalismus erwachsen und schwierige juristische und institutionelle Probleme nach sich ziehen.

In Anspielung an den Ausruf demokratischen Erwachens im vorigen Jahrhundert („Grundfeste eines freien Staates ist die freie Gemeinde“) formulierte Univ.-Prof. Felix Ermacora, Abgeordneter zum Nationalrat und Vorstand des Instituts für Rechtswissenschaft der Universität Wien: „Grundfeste des freien Europa ist die freie Region“. Er setzte damit den Schlußakzent und sprach von einem grenzübeschreitenden Regionalismus, wo kulturelle und historische Gemeinsamkeiten, das Vorhandensein gleicher Probleme (Verkehr, Tourismus, Umweltschutz usw.) regionales Bewußtsein schaffen.

Natürlich kann Regionalismus in Provinzialismus, Kirchturmpolitik, in eine Balkanisierung Europas ausarten, doch die Ethik individueller Selbstbestimmung (Becker) führt auch zur aktiven Beteiligung an der Lösung der Probleme, zur Identifikation der Bewohner mit ihrer Region und macht die Verfügungen entfernter Staatskanzleien durchschaubar und korrigierbar. Damit geht es wieder um die Freiheit.

Um das Stadium unverbindlicher Empfehlungen zu überwinden, ist es erst einmal nötig, die ganze Problemlage ins Bewußtsein zu heben, darüber nachzudenken, wie regionale. Aktivitäten stärker als bisher bewußt gemacht werden, wie sie vor allem zur Entideologisierung beitragen können und wie sie ganz besonders konkrete Demokratie darstellen. Und dazu leisteten die Vorträge und Diskussionen einen ebenfalls konkreten Beitrag.

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