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Neue Krankheit: „Reformmanie“
Die Geheimpolizei hat den sowjetischen Mathematiker und Bürgerrechtskämpfer Leonid Pljuschtsch am 14. Jänner 1973 in seiner Kiewer Wohnung verhaftet. Der Wissenschaftler wurde mittlerweile mit Berufung auf den Artikel 62 — „antisowjetische Aktivität“ — unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu unbeschränkter Haft in einer Irrenanstalt verurteilt. Neun mutige Anhänger einer „Aktionsgruppe“ protestierten in einem sarkastischen Flugblatt gegen diesen Willkürakt der Geheimpolizei und der Partei. In diesem Flugblatt steht unter anderem zu lesen: „In unserem Staat wagt es nur der Wahnsinnige, gegen Pflichtversäumnisse zu kämpfen, nur der Irrsinnige spricht über die Verletzung seiner Rechte.“
Wahrscheinlich gibt es kein Gesetzbuch und kein Strafrecht der Welt, in welchen das Vergehen des russischen Mathematikers zu finden wäre. So wurde er also von Parteiärzten zum Wahnsinnigen erklärt, weil er unter „Reformmanie leidet“. Nach parteiamtlicher Auffassung meldeten sich „die ersten unverkennbaren Anzeichen des Wahnsinns“ im Jahre 1968, als seine Beteiligung an der Reformbewegung der Bürgerrechtskämpfer bekannt wurde. Der 33jäh-rige Mathematiker ist übrigens ein Kollege von Jesenin-Wolpin, der ebenfalls zum „Verrückten“ erklärt wurde, 1972 jedoch das Glück hatte, die UdSSR als Emigrant für ewig verlassen zu dürfen.
„Irrsinnige“ sind bekanntlich oft sehr mutig. So hatte der Mathematiker aus Kiew 1968 gegen die merkwürdige Führung des Galanskow-Ginzburg-Prozesses protestiert und einen Brief an die „Komsomolskaja Prawda“ gesandt, der natürlich nie publiziert wurde. Pljuschtsch schrieb, daß der Verlauf jenes Prozesses nur in der Untergrundzeitung der Bürgerrechtskämpfer wahrheitsgetreu geschildert worden sei.
Einen weiteren „Beweis für seine geistige Unzurechnungsfähigkeit“ lieferte der Mathematiker 1969, als er mit anderen 16 prominenten Bürgerrechtskämpfern in einer Deklaration gegen die Überrumpelung der Tschechoslowakei sein Wort erhob und die Okkupation des befreundeten Landes ein tragisches Ereignis nannte. Mitunterzeichner waren Frau Grigorenko, die Gattin des viermal „zum Narren gemachten“ hochgebildeten Kybernetikgenerals Pjotr Grigorenko; die Dichterin Gorbanewskaja, der Wirtschaftsexperte Kraschin, der religiöse Schriftsteller Lewitin-Krasnow, der derzeit eingesperrte Historiker Pjotr Jakir und der Forscher Podjapolsky.
Pljuschtsch trat im Jahre 1969 der „Aktionsgruppe für die Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion“ bei und schrieb in einem Brief an das Menschenrechtskomitee der UNO, diese möge in der UdSSR eine Untersuchung einleiten. Dieser Brief wurde von 14 Personen mitunterzeichnet. Das Resultat war, daß die KGB im September 1969 gegen die „Aktionsgruppe“ losschlug. In Moskau wurden sechs bekannte Persönlichkeiten verhört, darunter Podjapolsky und Lewitin-Krasnow. Im Oktober 1969 wurden zahlreiche Hausdurchsuchungen, so auch bei Frau Gorbanewskaja, durchgeführt. Die ukrainische KGB stöberte in d*r Kiewer Wohnung von Pljuschtsch in der Hoffnung, kompromittierendes Material gegen den verhafteten Studenten Oleg Bakhtjarow finden zu können. Verschiedene Manuskripte wurden damals beschlagnahmt, Pljuschtsch wurde verhört, sowohl in bezug auf seinen Brief an die Vereinten Nationen als auch den „Fall Bakhtjarow“ betreffend, dessen Verbrechen darin bestand, daß er Werke von Berdjajew besaß. Bakthjarow wurde 1970 zu drei Jahren Haft verurteilt.
Die KGB hat unterdessen herausgefunden, daß die „Aktionsgruppe“ in Charchow 1969 von Genrikh Al-tunjan geleitet worden war und acht bekannte Ingenieure zu ihren „Unterstützern“ zählte. Natürlich wurde darauf auch Altunjan der Prozeß gemacht. Ingenieur Nedobora verfaßte darüber ein Flugblatt, und Irina Jakir sowie Pljuschtsch redigierten das Schriftstück. Beide wurden verhaftet. Im Laufe einer Körpervisitation wurden Berichte über den Altunjan-Prozeß bei ihnen gefunden und konfisziert. Altunjan wurde zu drei Jahre Zwangsarbeit wegen Verfertigung und Inumlaufsetzung von Dokumenten, die das sowjetische politische und soziale System diskreditiert hätten, verurteilt.
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