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Eine polnische Mafia?

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Polens Intelligentste sucht auch heute noch Antwort auf die Frage, warum der namhafte letzte polnisch-jüdische Schriftsteller und Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Forum“, Jan Gerhard, in der zweiten Augusthälfte in seiner Warschauer Wohnung ermordet wurde. Er war wahrhaftig der letzte der einst berühmten jüdischen Literaten Polens, bislang vom Innenministerium in Schlüsselpositionen belassen, ja sogar vom Judenfresser Moczar selbst geduldet.

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Polens Intelligentste sucht auch heute noch Antwort auf die Frage, warum der namhafte letzte polnisch-jüdische Schriftsteller und Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Forum“, Jan Gerhard, in der zweiten Augusthälfte in seiner Warschauer Wohnung ermordet wurde. Er war wahrhaftig der letzte der einst berühmten jüdischen Literaten Polens, bislang vom Innenministerium in Schlüsselpositionen belassen, ja sogar vom Judenfresser Moczar selbst geduldet.

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Die Zeitschrift „Forum“ war auf die Veröffentlichung selektierter ausländischer Zeitungspublikationen, vorwiegend westlicher Artikel, spezialisiert. Gerhards Bücher waren Publikumserfolge. Höchst erstaunlich ist, daß geübte Organe des Innenministeriums nach mehrwöchiger ausgedehnter und fieberhafter Untersuchung den Fall angeblich nicht aufklären und nicht einmal glaubhaft durchleuchten konnten. Auch die Kriminologen und gerichtsmedizinischen Experten des Sicherheitsdienstes und der Bürgermiliz waren eingeschaltet worden. Sie haben bloß die Umstände des Todes geklärt und — laut „Trybuna Ludu“

— „einige Ideen über die Motive der Tat“ gehabt. Soviel ist jedenfalls durchgesickert, daß die Behörden überzeugt sind, der Mord sei politisch motiviert!

Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst?

Gewöhnliche Mordfälle gehören zur Kompetenz der Miliz. Daß hier sofort der Geheimdienst und das Innenministerium eingeschaltet worden sind, weist auf einen politischen Hintergrund hin. In Warschau kursieren Gerüchte, wonach Jan Gerhard ein Opfer der internen Mafia der „Bezpicka“ (Geheimpolizei) sei. Seltsam genug: Gerhard war jüdi scher Abstammung, „obwohl er das niemals zugeben würde“ — schrieb die polnische Tageszeitung von Tel Aviv „Nowiny Kurier“ kürzlich. Es steht fest, daß der berühmte Redakteur und Literat eng mit den verschiedensten Abteilungen des Innenministeriums zusammengearbeitet hat. Er gehörte zu jener ganz kleinen Gruppe jüdischer Journalisten, die von Moczar geduldet wurde. Dies verdankte Gerhard dem Umstand, daß er aus alten Zeiten gute Beziehungen zu hohen sowjetischen Geheimdienstfunktionären besaß, mit denen er gemeinsam die Moskauer Militärakademie besucht hatte. Er wurde dort gegen Ende der vierziger Jahre graduiert. Er war Kriegsveteran und eine Abenteurernatur. Im September 1939, bloß 18 Jahre alt, wurde er von den Deutschen festgenommen, aber es gelang ihm, nach Frankreich zu flüchten, wo er im Juni 1940 wieder von der Gestapo erwischt wurde. Sieben Monate verbrachte Gerhard in einem Lager und wieder gelang ihm die Flucht, diesmal durch die Schweiz nach Frankreich. Dort schloß er sich einer polni-

sehen Rėstistance-Gruppe an. Als der überzeugte und erprobte Kommunist nach Kriegsende in die polnische Heimat zurückkehrte, ernannte man ihn zum Regimentskommandeur und er mußte mit seiner Einheit gegen ukrainische Nationalisten weiterkämpfen. Danach studierte er an der Generalstabsakademie und wurde später an eine Moskauer Militärakademie abkommandiert, was in seinen Biographien verschwiegen wurde und in Polen bis heute nur einem engen Kreis bekannt war.

Um so interessanter und überraschender war später, daß die große Spionagehysterie auch Gerhard nicht schonte. Er wurde plötzlich verhaftet, unter der Beschuldigung, für nicht näher identifizierte ausländische Spionagedienste gearbeitet zu haben. Er verschwand für zwei und ein halbes Jahr im Kerker. Als wäre nichts geschehen, wurde er später freigelassen, rehabilitiert und der Ausländsabteilung der amtlichen polnischen Nachrichtenagentur PAP als Mitarbeiter zugeteilt. Zwischen 1959 und 1963 war Gerhard PAP- Korrespondent in Paris. Seit 1965 leitete er dann in Warschau die Zeitschrift „Forum“ als Chefredakteur.

Nebenbei war Jan Gerhard ein profilierter Schriftsteller und ein sehr aktiver Publizist. Seine Bücher beschäftigten sich mit zwei Lieblingsthemen — mit dem Krieg und mit der Politik. Sein letztes Werk war die Trilogie „Zwyciestwo“ (Sieg). Ob man jemals die Wahrheit über die Ermordung dieses unruhigen Literaten in Erfahrung bringen wird?

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