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Nihilistische Versuchung

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Schreckensnachrichten gibt es heute genug: das Zunehmen der Drogensucht, Alkoholismus, psychische Erkrankungen, Terror, Kriminalität, das Ausbrechen kleiner und großer Kriege, Atomgefahr, Umweltvergiftung, Gefährdung der Energieversorgung. Handelt es sich um zufällig gleichzeitige Ereignisse von negativer Wirkung oder um einen einzigen Vorgang, dessen Verflechtung wir nicht erkennen?

Der Verlust des klaren Blicks, des richtigen Verhaltens, das Aufkommen der tiefen Unsicherheit, die Kettenreaktion von Irr- tümern kann nur von innen her erklärt werden: die Gleichge-

wichtsstörung in der Kultur allein ist verantwortlich für die Fehler, die ebenso in kleineren Regionen wie in der Weltpolitik einander potenzieren.

Der immer breiter vordringende Nihilismus scheint mir die Ursache dieser Gleichgewichtsstörung zu sein.

Man könnte darüber staunen, daß in der Gegenwart von Nihilismus verhältnismäßig wenig gesprochen wird, während in der zweiten Hälfte des vergangenen und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Schriften, Theorien, Aktionen des Nihilismus — als solche benannt — weit verbreitet waren. Vielleicht ist es aber so, daß der Nihilismus seit einigen Jahrzehnten vor allem deshalb nicht mehr als solcher auffällt, weil er sich zu wenig deutlich von anderem abhebt. Man erkennt nur durch Kontraste, und es könnte sein, daß jene Kontraste, gegen die der Nihilismus sichtbar wird, fast verschwunden sind.

Was ist mit Nihilismus gemeint? Im Duden steht lapidar und treffend: „Standpunkt der allgemeinen und bedingungslo sen Verneinung“. Nietzsche, der- zum Nihilismus erschreckend viel beigesteuert hat, bezeichnete ihn als „radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit“.

Nun, der „absolute Nihilismus“, also der Standpunkt der absoluten Verneinung, ist dem Menschen, solange er lebt, unmöglich. Die engste Annäherung ist der Selbstmord. Immerhin genügt der „relative Nihilismus“ in seinen unendlich verschiedenen Spielarten und Mischungen, daß die Richtung auf den Selbstmord bewußt oder unbewußt eingeschlagen wird.

Das Erscheinungsbild der „relativen Nihilismen“ ist gerade in unserer so kompliziert gewordenen Zivilisation derart vielfältig und yerwirrend, daß es schwerfällt, auch nur die wichtigsten Einzelheiten in ihrer Verflechtung zu erkennen und darzustellen. Der Versuch muß unvollkommen bleiben, doch mag er als Aufforderung gelten, daß jeder ihn im eigenen Erfahrungsbereich für sich selbst fortsetze.

Die gefährlichsten Nihilismen scheinen mir jene zu sein, die man kaum als solche wahrnimmt. Sie sind hinter verschiedensten Masken verborgen, werden nicht als gemeinsames Phänomen erkannt und so bezeichnet.

Einige der Wegspuren dieser Richtung in den Nihilismus sind folgende:

• Eine verführerische Bequemlichkeit redet sich auf die Unver- änderbarkeit der Verhältnisse aus und kann ebenso mit dem Zweifel an allem und jedem (weil jedes Bemühen ohnedies vergeblich sei), wie, andererseits, mit der Beseitigung allen Zweifels und der höchsten Selbstzufriedenheit operieren.

• Eine Folge davon ist die Gleichgültigkeit. Das Unbeteiligtsein an allen Geschehnissen rundum, an den Ereignissen, die in der Welt zu beobachten sind, an erfreulichen und tragischen Wendungen, Kriegen, Hungersnöten, aber auch an all dem, was in unmittelbarer Umgebung stattfindet. Es gibt wahre Meister des Desengagements, Virtuosen der Gleichgültigkeit, die ihren Egoismus mit besten Argumenten und größter Liebenswürdigkeit garnieren.

• Die erste Folge dieses Nihilismus der Gleichgültigkeit ist die Langeweile. Sie ist keineswegs leicht zu erkennen, da sie vor allem im frühen Stadium durch hektischen Übereifer getarnt werden kann. Das innere Loch der Langeweile wird mit Geschäftigkeit, äußerer Aktivität, überhitztem Management gefüllt, und es stellt sich erst später, gleichzeitig mit zunehmender Erschöpfung heraus, daß dieser Versuch vergeblich war.

• Ein weiterer sehr gefährlicher Nihilismus ist die Frivolität der Wahrheit gegenüber. Was ist Wahrheit — war schon die Frage des Pontius Pilatus, der sich nach dem lauen Bemühen, die fanatischen Ankläger umzustimmen, die Hände wusch, um seine Schuldlosigkeit zu zeigen: und Christus kam ans Kreuz. Ob man dies oder jenes sagt, so oder anders handelt, sei nicht entscheidend, nur wie man aus der momentanen Situation gut aussteigt, darauf käme es an. Bald entstehen dann ein Milieu und eine Gesellschaft, in der kein Wort mehr glaubhaft ist und kein Handeln mehr stimmt.

• In kritikloser Toleranz kann - oft unbewußt — erheblicher Zynismus und damit Nihilismus enthalten sein: Man bedient den Markt, liefert, was dort gefällt, und redet sich ein, der Markt und damit die Mehrheit wünschten stets das Richtige.

• Verbrechen, Betrug, Bestechlichkeit, Korruption aller Art sind Zeichen von Nihilismus durch ihre Negation nicht nur der unmittelbar Geschädigten, sondern der moralischen Grundlage, die erst eine Gesellschaft in gegenseitigem Vertrauen und Zufriedenheit ermöglicht.

• Drogen,Alkoholundunzählige Varianten individueller Selbstzerstörung gehören in den weiten Bereich der Aggression gegen sich selbst, der als seinen Hintergrund den Nihilismus erkennen läßt.

Nihilismus kommt auf, wenn man das Elend, den Hunger, die Kriege in der Welt erkennt, aber nicht glaubt, daß daran auch nur das Geringste zu ändern ist, und es auch für unmöglich hält, daß das Leben sogar unter furchtbaren Bedingungen noch lebenswert sein kann. Der Pessimismus ist auf nihilistische Weise eine Verführung zur Kapitulation, oft sogar eine Rechtfertigung der Kapitulation vor dem oft durchaus änderbaren Elend anderer — und ebenso vor der eigenen Lage.

Meist schützt aufrichtige Religiosität vor Nihilismus — aber wie soll der Weg der Religion jenen Menschen empfohlen werden, die erklären, nicht glauben zu können? Oft tritt Nihilismus eben ein durch die Unfähigkeit, zu glauben. Pascal schrieb: „Knie nieder, und du wirst glauben.“ Recht viele knien — zumindest ihrer inneren Haltung nach - allzuoft vor politischen Idolen, charismatischen Führern, Ideologien, sogar vor Ministern und ranghöheren Beamten. Der Versuch einer Zurücknahme des Hochmuts auf anderer Ebene erscheint da nicht so unzumutbar.

Bedenkt man das enorme Ansteigen von Gleichgültigkeit, Resignation, Pessimismus, Verneinung, Zerstörung und Selbstzerstörung in unserer Zeit, so kann man wohl von einer erschrecken- denPräsenz des Nihilismus in unzähligen Schattierungen sprechen.

Dieser Neo-Nihilismus ist nicht an eine bestimmte politische Farbe gebunden. Er ist eine psychische Haltung, die sich in verschiedensten politischen Aufmachungen äußern kann. Nihilismus ist unsere Zeitkrankheit. Ihr stehen unzählige Menschen, erhebliche Bevölkerungsteile entgegen. Mitunter sieht es aus, als könne die Hoffnung zunehmen, daß die Energie der Verneinung aufgehalten wird oder nachläßt. Unser Denken und Tun wird dabei mitzuwirken haben.

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